Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. führt den Menschen mit Notwendigkeit auf sich selbst zurück, und erselbst wiederum findet seinen Verstand nirgends anders "dargelegt", als in der wahrgenommenen und gedachten Natur. Die gesamte Erscheinung der Natur ist eine spezifisch menschliche, durch den aktiven Menschen- verstand also gestaltet, wie wir sie wahrnehmen; andererseits aber wird dieser Verstand einzig und allein von aussen, d. h. durch empfangene Eindrücke genährt: als Reaktion erwacht unser Verstand, d. h. also als Rückwirkung auf Etwas, was nicht Mensch ist. Ich nannte vor- hin den menschlichen Verstand schöpferisch, doch ist er es nur in bedingtem Sinne, er vermag es nicht, wie Jahve, aus nichts etwas zu schaffen, sondern nur das Gegebene umzugestalten; unser Geistesleben besteht aus Aktion und Reaktion: um geben zu können, müssen wir empfangen haben. Daher die wichtige Erkenntnis, auf die ich häufig in diesem Buche hingewiesen habe,1) zuletzt in Goethe's Worten: "einzig die hervorbringende Natur besitzt unzweideutiges Genie". Wie komme ich aber aus diesem Dilemma; wie beantworte ich die Frage, "wie ist Erfahrung möglich"? Das Objekt weist mich zurück auf das Subjekt, das Subjekt kennt sich selber nur im Objekt. Es giebt keinen Ausgang, keine Antwort. Wie ich vorhin sagte: unser Wissen von der Natur ist die immer ausführlichere Darlegung eines Unwissbaren; zu dieser unwissbaren Natur gehört unser eigener Verstand in erster Reihe. Doch ist dieses Ergebnis beileibe nicht als rein negatives zu betrachten; nicht allein ist auf dem Wege dahin das gegenseitige Ver- hältnis von Subjekt und Objekt aufgeklärt worden, sondern das End- ergebnis bildet die endgültige Abwehr jedes materialistischen Dogmas. Nunmehr konnte Kant das grosse Wort sprechen: "eine dogmatische Auflösung der kosmologischen Frage ist nicht etwa ungewiss, sondern unmöglich". Was denkende Menschen zu allen Zeiten geahnt hatten -- bei den Indern, bei den Hellenen, sogar hier und da unter den Kirchenvätern (S. 599) und Kirchendoktoren, was die Mystiker als selbstverständlich vorausgesetzt hatten (S. 885), und worauf die ersten naturforschenden Denker, Descartes und Locke, sofort gestossen waren, ohne es sich deuten zu können (S. 912) --, dass nämlich Zeit und Raum Anschauungsformen unseres tierischen Sinnenlebens sind, war jetzt durch naturwissenschaftliche Kritik erwiesen. Zeit und Raum "sind die Formen der sinnlichen Anschauung, wodurch wir aber die Objekte nur erkennen, wie sie uns (unseren Sinnen) erscheinen 1) Siehe namentlich S. 270, 762, 806.
Die Entstehung einer neuen Welt. führt den Menschen mit Notwendigkeit auf sich selbst zurück, und erselbst wiederum findet seinen Verstand nirgends anders »dargelegt«, als in der wahrgenommenen und gedachten Natur. Die gesamte Erscheinung der Natur ist eine spezifisch menschliche, durch den aktiven Menschen- verstand also gestaltet, wie wir sie wahrnehmen; andererseits aber wird dieser Verstand einzig und allein von aussen, d. h. durch empfangene Eindrücke genährt: als Reaktion erwacht unser Verstand, d. h. also als Rückwirkung auf Etwas, was nicht Mensch ist. Ich nannte vor- hin den menschlichen Verstand schöpferisch, doch ist er es nur in bedingtem Sinne, er vermag es nicht, wie Jahve, aus nichts etwas zu schaffen, sondern nur das Gegebene umzugestalten; unser Geistesleben besteht aus Aktion und Reaktion: um geben zu können, müssen wir empfangen haben. Daher die wichtige Erkenntnis, auf die ich häufig in diesem Buche hingewiesen habe,1) zuletzt in Goethe’s Worten: »einzig die hervorbringende Natur besitzt unzweideutiges Genie«. Wie komme ich aber aus diesem Dilemma; wie beantworte ich die Frage, »wie ist Erfahrung möglich«? Das Objekt weist mich zurück auf das Subjekt, das Subjekt kennt sich selber nur im Objekt. Es giebt keinen Ausgang, keine Antwort. Wie ich vorhin sagte: unser Wissen von der Natur ist die immer ausführlichere Darlegung eines Unwissbaren; zu dieser unwissbaren Natur gehört unser eigener Verstand in erster Reihe. Doch ist dieses Ergebnis beileibe nicht als rein negatives zu betrachten; nicht allein ist auf dem Wege dahin das gegenseitige Ver- hältnis von Subjekt und Objekt aufgeklärt worden, sondern das End- ergebnis bildet die endgültige Abwehr jedes materialistischen Dogmas. Nunmehr konnte Kant das grosse Wort sprechen: »eine dogmatische Auflösung der kosmologischen Frage ist nicht etwa ungewiss, sondern unmöglich«. Was denkende Menschen zu allen Zeiten geahnt hatten — bei den Indern, bei den Hellenen, sogar hier und da unter den Kirchenvätern (S. 599) und Kirchendoktoren, was die Mystiker als selbstverständlich vorausgesetzt hatten (S. 885), und worauf die ersten naturforschenden Denker, Descartes und Locke, sofort gestossen waren, ohne es sich deuten zu können (S. 912) —, dass nämlich Zeit und Raum Anschauungsformen unseres tierischen Sinnenlebens sind, war jetzt durch naturwissenschaftliche Kritik erwiesen. Zeit und Raum »sind die Formen der sinnlichen Anschauung, wodurch wir aber die Objekte nur erkennen, wie sie uns (unseren Sinnen) erscheinen 1) Siehe namentlich S. 270, 762, 806.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
führt den Menschen mit Notwendigkeit auf sich selbst zurück, und er
selbst wiederum findet seinen Verstand nirgends anders »dargelegt«, als
in der wahrgenommenen und gedachten Natur. Die gesamte Erscheinung
der Natur ist eine spezifisch menschliche, durch den aktiven Menschen-
verstand also gestaltet, wie wir sie wahrnehmen; andererseits aber wird
dieser Verstand einzig und allein von aussen, d. h. durch empfangene
Eindrücke genährt: als Reaktion erwacht unser Verstand, d. h. also
als Rückwirkung auf Etwas, was nicht Mensch ist. Ich nannte vor-
hin den menschlichen Verstand schöpferisch, doch ist er es nur in
bedingtem Sinne, er vermag es nicht, wie Jahve, aus nichts etwas zu
schaffen, sondern nur das Gegebene umzugestalten; unser Geistesleben
besteht aus Aktion und Reaktion: um geben zu können, müssen wir
empfangen haben. Daher die wichtige Erkenntnis, auf die ich häufig
in diesem Buche hingewiesen habe, 1) zuletzt in Goethe’s Worten:
»einzig die hervorbringende Natur besitzt unzweideutiges Genie«. Wie
komme ich aber aus diesem Dilemma; wie beantworte ich die Frage,
»wie ist Erfahrung möglich«? Das Objekt weist mich zurück auf das
Subjekt, das Subjekt kennt sich selber nur im Objekt. Es giebt keinen
Ausgang, keine Antwort. Wie ich vorhin sagte: unser Wissen von
der Natur ist die immer ausführlichere Darlegung eines Unwissbaren;
zu dieser unwissbaren Natur gehört unser eigener Verstand in erster
Reihe. Doch ist dieses Ergebnis beileibe nicht als rein negatives zu
betrachten; nicht allein ist auf dem Wege dahin das gegenseitige Ver-
hältnis von Subjekt und Objekt aufgeklärt worden, sondern das End-
ergebnis bildet die endgültige Abwehr jedes materialistischen Dogmas.
Nunmehr konnte Kant das grosse Wort sprechen: »eine dogmatische
Auflösung der kosmologischen Frage ist nicht etwa ungewiss, sondern
unmöglich«. Was denkende Menschen zu allen Zeiten geahnt hatten
— bei den Indern, bei den Hellenen, sogar hier und da unter den
Kirchenvätern (S. 599) und Kirchendoktoren, was die Mystiker als
selbstverständlich vorausgesetzt hatten (S. 885), und worauf die ersten
naturforschenden Denker, Descartes und Locke, sofort gestossen waren,
ohne es sich deuten zu können (S. 912) —, dass nämlich Zeit und
Raum Anschauungsformen unseres tierischen Sinnenlebens sind, war
jetzt durch naturwissenschaftliche Kritik erwiesen. Zeit und Raum
»sind die Formen der sinnlichen Anschauung, wodurch wir aber die
Objekte nur erkennen, wie sie uns (unseren Sinnen) erscheinen
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