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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
können, nicht, wie sie an sich sein mögen".1) Des weiteren hatte
die Kritik an den Tag gebracht, dass auch die Verknüpfungen des
Verstandes, durch welche die Vorstellung und der Gedanke einer
"Natur" entsteht und besteht (oder wenn man mit Böhme reden will,
"sich spiegelieret"), also in erster Reihe die allseitig ordnende Ver-
knüpfung der Erscheinungen zu Ursache und Wirkung, ebenfalls auf
jene von Duns Scotus geahnte aktive Bearbeitung des Erfahrungsstoffes
durch den Menschengeist zurückzuführen sei. Hiermit fielen die kos-
mogonischen Vorstellungen der Semiten, wie sie unsere Wissenschaft
und Religion so arg bedrückten und noch bedrücken, ins Wasser.
Was soll mir eine historische Religion, wenn die Zeit lediglich eine
Anschauungsform meines sinnlichen Mechanismus ist? Was soll mir
ein Schöpfer als Welterklärung, als erste Ursache, wenn die Wissen-
schaft mir gezeigt hat: "Kausalität hat gar keine Bedeutung und kein
Merkmal seines Gebrauches, als nur in der Sinnenwelt",2) dagegen
verliere dieser Begriff von Ursache und Wirkung "in bloss spekulativem
Gebrauche (wie bei der Vorstellung eines Gott-Schöpfers) alle Bedeutung,
deren objektive Realität sich in concreto begreiflich machen lasse"?3)
Durch diese Einsicht wird ein Idol zerschmettert. Ich nannte in einem
früheren Kapitel die Israeliten "abstrakte Götzenanbeter";4) jetzt wird
man, glaube ich, mich gut verstehen. Und man wird begreifen, was
Kant meint, wenn er erklärt, das System der Kritik sei gerade "zu
den höchsten Zwecken
der Menschheit unentbehrlich",5) und wenn
er an Mendelssohn schreibt: "Das wahre und dauerhafte Wohl des
menschlichen Geschlechtes kommt auf Metaphysik an." Diese ger-
manische Metaphysik befreit uns vom Götzendienst und offenbart uns
dadurch das lebendige Göttliche im eigenen Busen.

Hier berühren wir nicht bloss, wie man sieht, das Hauptthema
dieses Abschnittes -- das Verhältnis zwischen Weltanschauung und
Religion -- sondern wir sind schon mitten drin; zugleich knüpft das
soeben Gesagte an den Schluss des Abschnittes "Entdeckung" an, wo

1) Prolegomena, § 10.
2) Kritik der reinen Vernunft (Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen
Beweises vom Dasein Gottes). Schon zwanzig Jahre vorher hatte Kant geschrieben:
"Wie soll ich es verstehen, dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei? Ich lasse
mich durch die Wörter Ursache und Wirkung nicht abspeisen" (Versuch, den Begriff
der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen,
Abschn. 3, Allg. Anm.).
3) Loc. cit. (Kritik aller spekulativen Theologie.)
4) S. 243.
5) Erklärung gegen Fichte (Schlussatz).

Weltanschauung und Religion.
können, nicht, wie sie an sich sein mögen«.1) Des weiteren hatte
die Kritik an den Tag gebracht, dass auch die Verknüpfungen des
Verstandes, durch welche die Vorstellung und der Gedanke einer
»Natur« entsteht und besteht (oder wenn man mit Böhme reden will,
»sich spiegelieret«), also in erster Reihe die allseitig ordnende Ver-
knüpfung der Erscheinungen zu Ursache und Wirkung, ebenfalls auf
jene von Duns Scotus geahnte aktive Bearbeitung des Erfahrungsstoffes
durch den Menschengeist zurückzuführen sei. Hiermit fielen die kos-
mogonischen Vorstellungen der Semiten, wie sie unsere Wissenschaft
und Religion so arg bedrückten und noch bedrücken, ins Wasser.
Was soll mir eine historische Religion, wenn die Zeit lediglich eine
Anschauungsform meines sinnlichen Mechanismus ist? Was soll mir
ein Schöpfer als Welterklärung, als erste Ursache, wenn die Wissen-
schaft mir gezeigt hat: »Kausalität hat gar keine Bedeutung und kein
Merkmal seines Gebrauches, als nur in der Sinnenwelt«,2) dagegen
verliere dieser Begriff von Ursache und Wirkung »in bloss spekulativem
Gebrauche (wie bei der Vorstellung eines Gott-Schöpfers) alle Bedeutung,
deren objektive Realität sich in concreto begreiflich machen lasse«?3)
Durch diese Einsicht wird ein Idol zerschmettert. Ich nannte in einem
früheren Kapitel die Israeliten »abstrakte Götzenanbeter«;4) jetzt wird
man, glaube ich, mich gut verstehen. Und man wird begreifen, was
Kant meint, wenn er erklärt, das System der Kritik sei gerade »zu
den höchsten Zwecken
der Menschheit unentbehrlich«,5) und wenn
er an Mendelssohn schreibt: »Das wahre und dauerhafte Wohl des
menschlichen Geschlechtes kommt auf Metaphysik an.« Diese ger-
manische Metaphysik befreit uns vom Götzendienst und offenbart uns
dadurch das lebendige Göttliche im eigenen Busen.

Hier berühren wir nicht bloss, wie man sieht, das Hauptthema
dieses Abschnittes — das Verhältnis zwischen Weltanschauung und
Religion — sondern wir sind schon mitten drin; zugleich knüpft das
soeben Gesagte an den Schluss des Abschnittes »Entdeckung« an, wo

1) Prolegomena, § 10.
2) Kritik der reinen Vernunft (Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen
Beweises vom Dasein Gottes). Schon zwanzig Jahre vorher hatte Kant geschrieben:
»Wie soll ich es verstehen, dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei? Ich lasse
mich durch die Wörter Ursache und Wirkung nicht abspeisen« (Versuch, den Begriff
der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen,
Abschn. 3, Allg. Anm.).
3) Loc. cit. (Kritik aller spekulativen Theologie.)
4) S. 243.
5) Erklärung gegen Fichte (Schlussatz).
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[931/0410] Weltanschauung und Religion. können, nicht, wie sie an sich sein mögen«. 1) Des weiteren hatte die Kritik an den Tag gebracht, dass auch die Verknüpfungen des Verstandes, durch welche die Vorstellung und der Gedanke einer »Natur« entsteht und besteht (oder wenn man mit Böhme reden will, »sich spiegelieret«), also in erster Reihe die allseitig ordnende Ver- knüpfung der Erscheinungen zu Ursache und Wirkung, ebenfalls auf jene von Duns Scotus geahnte aktive Bearbeitung des Erfahrungsstoffes durch den Menschengeist zurückzuführen sei. Hiermit fielen die kos- mogonischen Vorstellungen der Semiten, wie sie unsere Wissenschaft und Religion so arg bedrückten und noch bedrücken, ins Wasser. Was soll mir eine historische Religion, wenn die Zeit lediglich eine Anschauungsform meines sinnlichen Mechanismus ist? Was soll mir ein Schöpfer als Welterklärung, als erste Ursache, wenn die Wissen- schaft mir gezeigt hat: »Kausalität hat gar keine Bedeutung und kein Merkmal seines Gebrauches, als nur in der Sinnenwelt«, 2) dagegen verliere dieser Begriff von Ursache und Wirkung »in bloss spekulativem Gebrauche (wie bei der Vorstellung eines Gott-Schöpfers) alle Bedeutung, deren objektive Realität sich in concreto begreiflich machen lasse«? 3) Durch diese Einsicht wird ein Idol zerschmettert. Ich nannte in einem früheren Kapitel die Israeliten »abstrakte Götzenanbeter«; 4) jetzt wird man, glaube ich, mich gut verstehen. Und man wird begreifen, was Kant meint, wenn er erklärt, das System der Kritik sei gerade »zu den höchsten Zwecken der Menschheit unentbehrlich«, 5) und wenn er an Mendelssohn schreibt: »Das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschlechtes kommt auf Metaphysik an.« Diese ger- manische Metaphysik befreit uns vom Götzendienst und offenbart uns dadurch das lebendige Göttliche im eigenen Busen. Hier berühren wir nicht bloss, wie man sieht, das Hauptthema dieses Abschnittes — das Verhältnis zwischen Weltanschauung und Religion — sondern wir sind schon mitten drin; zugleich knüpft das soeben Gesagte an den Schluss des Abschnittes »Entdeckung« an, wo 1) Prolegomena, § 10. 2) Kritik der reinen Vernunft (Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes). Schon zwanzig Jahre vorher hatte Kant geschrieben: »Wie soll ich es verstehen, dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei? Ich lasse mich durch die Wörter Ursache und Wirkung nicht abspeisen« (Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen, Abschn. 3, Allg. Anm.). 3) Loc. cit. (Kritik aller spekulativen Theologie.) 4) S. 243. 5) Erklärung gegen Fichte (Schlussatz).

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 931. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/410>, abgerufen am 21.11.2024.