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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
weichung statt, sondern es stehen zwei fremde Gebilde nebeneinander,
fremd von der Wurzel bis zur Blüte. Mögen auch die Bäume fest auf-
einander gepfropft worden sein, ineinander verschmelzen können sie nie
und nimmer. Und doch war gerade diese Verschmelzung das, was das
frühere Christentum erstrebte und was noch heute für gläubige Seelen
den Stein des Sisyphus bildet. Freilich im Uranfang, d. h. bevor im
4. Jahrhundert das gesamte Völkerchaos gewaltsam ins Christentum
hineingezwängt worden war und mit ihm zugleich seine religiösen Vor-
stellungen, war das noch nicht der Fall. In den allerältesten Schriften
findet man die Androhung von Strafen fast gar nicht, und auch der
Himmel ist nur das Vertrauen auf ein unaussprechliches Glück,1) durch
Christi Tod erworben. Wo jüdischer Einfluss vorherrscht, finden wir
dann noch in jenen frühesten christlichen Zeiten den sogenannten Chilias-
mus, d. h. den Glauben an ein bald einzutretendes tausendjähriges Reich
Gottes auf Erden (lediglich eine der vielen Gestaltungen des von den
Juden erträumten theokratischen Weltreiches); wo dagegen philosophische
Denkart vorübergehend die Oberhand behält, so z. B. bei Origenes,
treten Anschauungen zu Tage, welche von der Seelenwanderung der
Inder und Plato's2) kaum zu unterscheiden sind: die Menschengeister
werden als von Ewigkeit geschaffen gedacht, je nach ihrem Thun
steigen sie hinauf und hinab, zuletzt werden ausnahmslos alle verklärt
werden, sogar auch die Dämonen.3) In einem solchen System besitzt,
wie man sieht, weder das individuelle Leben selbst, noch die Ver-
heissung von Lohn und die Androhung von Strafe einen Sinn, der mit
der Auffassung der judaeo-christlichen Religion irgendwie congruieren
könnte.4) Doch bald siegte auch hier der jüdische Geist, und zwar
indem er, genau so wie beim Dogma und bei der Intoleranz, eine
früher auf dem beschränkten Boden Judäa's ungeahnte Entwickelung
nahm. Höllenstrafen und Himmelsseligkeit, die Furcht vor den einen,
die Hoffnung auf die andere, sind fortan für die gesamte Christenheit

1) Meist unter missverständnisvoller Anlehnung an Jesaia LXIV, 4.
2) Über das Verhältnis zwischen diesen beiden vergl. S. 80 u. 111.
3) Ich verweise namentlich auf Kap. 29 der Schrift Über das Gebet von Ori-
genes; in der Form eines Komentars zu den Worten: "Führe uns nicht in Ver-
suchung", entwickelt der grosse Mann eine rein indische Anschauung über die Be-
deutung der Sünde als Heilsmittel.
4) Übrigens hat Origenes das mythische Element im Christentum ausdrücklich
anerkannt. Nur meinte er, das Christentum sei "die einzige Religion, die auch in
mythischer Form Wahrheit ist" (vergl. Harnack: Dogmengeschichte, Abriss, 2. Aufl.,
S. 113.).

Der Kampf.
weichung statt, sondern es stehen zwei fremde Gebilde nebeneinander,
fremd von der Wurzel bis zur Blüte. Mögen auch die Bäume fest auf-
einander gepfropft worden sein, ineinander verschmelzen können sie nie
und nimmer. Und doch war gerade diese Verschmelzung das, was das
frühere Christentum erstrebte und was noch heute für gläubige Seelen
den Stein des Sisyphus bildet. Freilich im Uranfang, d. h. bevor im
4. Jahrhundert das gesamte Völkerchaos gewaltsam ins Christentum
hineingezwängt worden war und mit ihm zugleich seine religiösen Vor-
stellungen, war das noch nicht der Fall. In den allerältesten Schriften
findet man die Androhung von Strafen fast gar nicht, und auch der
Himmel ist nur das Vertrauen auf ein unaussprechliches Glück,1) durch
Christi Tod erworben. Wo jüdischer Einfluss vorherrscht, finden wir
dann noch in jenen frühesten christlichen Zeiten den sogenannten Chilias-
mus, d. h. den Glauben an ein bald einzutretendes tausendjähriges Reich
Gottes auf Erden (lediglich eine der vielen Gestaltungen des von den
Juden erträumten theokratischen Weltreiches); wo dagegen philosophische
Denkart vorübergehend die Oberhand behält, so z. B. bei Origenes,
treten Anschauungen zu Tage, welche von der Seelenwanderung der
Inder und Plato’s2) kaum zu unterscheiden sind: die Menschengeister
werden als von Ewigkeit geschaffen gedacht, je nach ihrem Thun
steigen sie hinauf und hinab, zuletzt werden ausnahmslos alle verklärt
werden, sogar auch die Dämonen.3) In einem solchen System besitzt,
wie man sieht, weder das individuelle Leben selbst, noch die Ver-
heissung von Lohn und die Androhung von Strafe einen Sinn, der mit
der Auffassung der judaeo-christlichen Religion irgendwie congruieren
könnte.4) Doch bald siegte auch hier der jüdische Geist, und zwar
indem er, genau so wie beim Dogma und bei der Intoleranz, eine
früher auf dem beschränkten Boden Judäa’s ungeahnte Entwickelung
nahm. Höllenstrafen und Himmelsseligkeit, die Furcht vor den einen,
die Hoffnung auf die andere, sind fortan für die gesamte Christenheit

1) Meist unter missverständnisvoller Anlehnung an Jesaia LXIV, 4.
2) Über das Verhältnis zwischen diesen beiden vergl. S. 80 u. 111.
3) Ich verweise namentlich auf Kap. 29 der Schrift Über das Gebet von Ori-
genes; in der Form eines Komentars zu den Worten: »Führe uns nicht in Ver-
suchung«, entwickelt der grosse Mann eine rein indische Anschauung über die Be-
deutung der Sünde als Heilsmittel.
4) Übrigens hat Origenes das mythische Element im Christentum ausdrücklich
anerkannt. Nur meinte er, das Christentum sei »die einzige Religion, die auch in
mythischer Form Wahrheit ist« (vergl. Harnack: Dogmengeschichte, Abriss, 2. Aufl.,
S. 113.).
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[574/0053] Der Kampf. weichung statt, sondern es stehen zwei fremde Gebilde nebeneinander, fremd von der Wurzel bis zur Blüte. Mögen auch die Bäume fest auf- einander gepfropft worden sein, ineinander verschmelzen können sie nie und nimmer. Und doch war gerade diese Verschmelzung das, was das frühere Christentum erstrebte und was noch heute für gläubige Seelen den Stein des Sisyphus bildet. Freilich im Uranfang, d. h. bevor im 4. Jahrhundert das gesamte Völkerchaos gewaltsam ins Christentum hineingezwängt worden war und mit ihm zugleich seine religiösen Vor- stellungen, war das noch nicht der Fall. In den allerältesten Schriften findet man die Androhung von Strafen fast gar nicht, und auch der Himmel ist nur das Vertrauen auf ein unaussprechliches Glück, 1) durch Christi Tod erworben. Wo jüdischer Einfluss vorherrscht, finden wir dann noch in jenen frühesten christlichen Zeiten den sogenannten Chilias- mus, d. h. den Glauben an ein bald einzutretendes tausendjähriges Reich Gottes auf Erden (lediglich eine der vielen Gestaltungen des von den Juden erträumten theokratischen Weltreiches); wo dagegen philosophische Denkart vorübergehend die Oberhand behält, so z. B. bei Origenes, treten Anschauungen zu Tage, welche von der Seelenwanderung der Inder und Plato’s 2) kaum zu unterscheiden sind: die Menschengeister werden als von Ewigkeit geschaffen gedacht, je nach ihrem Thun steigen sie hinauf und hinab, zuletzt werden ausnahmslos alle verklärt werden, sogar auch die Dämonen. 3) In einem solchen System besitzt, wie man sieht, weder das individuelle Leben selbst, noch die Ver- heissung von Lohn und die Androhung von Strafe einen Sinn, der mit der Auffassung der judaeo-christlichen Religion irgendwie congruieren könnte. 4) Doch bald siegte auch hier der jüdische Geist, und zwar indem er, genau so wie beim Dogma und bei der Intoleranz, eine früher auf dem beschränkten Boden Judäa’s ungeahnte Entwickelung nahm. Höllenstrafen und Himmelsseligkeit, die Furcht vor den einen, die Hoffnung auf die andere, sind fortan für die gesamte Christenheit 1) Meist unter missverständnisvoller Anlehnung an Jesaia LXIV, 4. 2) Über das Verhältnis zwischen diesen beiden vergl. S. 80 u. 111. 3) Ich verweise namentlich auf Kap. 29 der Schrift Über das Gebet von Ori- genes; in der Form eines Komentars zu den Worten: »Führe uns nicht in Ver- suchung«, entwickelt der grosse Mann eine rein indische Anschauung über die Be- deutung der Sünde als Heilsmittel. 4) Übrigens hat Origenes das mythische Element im Christentum ausdrücklich anerkannt. Nur meinte er, das Christentum sei »die einzige Religion, die auch in mythischer Form Wahrheit ist« (vergl. Harnack: Dogmengeschichte, Abriss, 2. Aufl., S. 113.).

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/53>, abgerufen am 27.11.2024.