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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.

Doch nicht allein das Rückgrat wurde von der werdenden christ-
lichen Kirche dem Judentum entlehnt, sondern vielmehr das ganze innere
Knochengerüst. Da wäre in allererster Reihe auf die Motivierung des
Glaubens und der Tugend hinzuweisen: sie ist im kirchlichen Christen-
tum durch und durch jüdisch, denn sie beruht auf Furcht und Hoffnung:
hie ewiger Lohn, dort ewige Strafe. Auch über diesen Gegenstand kann
ich mich auf frühere Ausführungen berufen, in denen ich den prinzi-
piellen Unterschied hervorhob zwischen einer Religion, welche sich an
die rein egoistischen Regungen des Herzens wendet, an Furcht und
Begehr, und einer Religion, welche, wie die Brahmanische, "die Verzicht-
leistung auf einen Genuss des Lohnes hier und im Jenseits" als die erste
Stufe zur Einweihung in wahre Frömmigkeit betrachtet.1) Ich will mich
nicht wiederholen; doch sind wir jetzt in der Lage, jene Einsicht be-
deutend zu vertiefen und dadurch wird man erst klar erkennen, welch
unausbleiblicher und nie beizulegender Konflikt sich auch hier aus dem
gewaltsamen Zusammenschweissen entgegengesetzter Weltanschauungen
ergeben musste. Denn die geringste Überlegung wird uns davon über-
zeugen, dass die Vorstellung der Erlösung und der Willensumkehr, wie
sie den Indoeuropäern schon vielfach vorgeschwebt hatte und wie sie
durch den Mund des Heilandes ewigen Ausdruck fand, von allen jenen
gänzlich abweicht, welche das irdische Thun durch posthume Bestrafung
und Belohnung vergelten lassen.2) Hier findet nicht allein eine Ab-

1) Siehe den Exkurs über semitische Religion im fünften Kapitel und vergl.
namentlich S. 413 mit S. 426. Vergl. auch zur Ergänzung die Ausführungen über
germanische Weltanschauung im betreffenden Abschnitt des neunten Kapitels.
2) Am durchgebildetsten findet sich dieses System bei den Altägyptern, nach
deren Vorstellungen das Herz des Gestorbenen auf eine Wage gelegt und gegen
das Ideal des Rechtes und der Wahrhaftigkeit abgewogen wird; die Idee einer
durch göttliche Gnade bewirkten Umwandlung des inneren Menschen war ihnen voll-
kommen fremd. Die Juden haben sich nie zu der Höhe der ägyptischen Vor-
stellung hinaufgeschwungen; der Lohn war für sie früher einfach sehr langes Leben
des Individuums und künftige Weltherrschaft der Nation, die Strafe Tod und für
die kommenden Geschlechter Elend. In späteren Zeiten nahmen sie jedoch aller-
hand Superstitionen auf, aus denen sich ein durchaus weltlich gedachtes Gottesreich
ergab (siehe S. 449) und als Gegenstück eine recht weltliche Hölle. Aus diesen und
anderen, aus den tiefsten Niederungen menschlichen Wahnwitzes und Aberglaubens
emporsprossenden Vorstellungen wurde dann die christliche Hölle (von der noch
Origenes nichts wusste, ausser in der Form von Gewissensqualen!) gezimmert,
während der Neoplatonismus, griechische Dichtung und ägyptische Vorstellungen
der "Gefilde der Seligen" (siehe die Abbildungen in Budge: The book of the dead)
den christlichen Himmel lieferten -- doch ohne dass dieser jemals die Deutlichkeit
der Hölle erreicht hätte.
Religion.

Doch nicht allein das Rückgrat wurde von der werdenden christ-
lichen Kirche dem Judentum entlehnt, sondern vielmehr das ganze innere
Knochengerüst. Da wäre in allererster Reihe auf die Motivierung des
Glaubens und der Tugend hinzuweisen: sie ist im kirchlichen Christen-
tum durch und durch jüdisch, denn sie beruht auf Furcht und Hoffnung:
hie ewiger Lohn, dort ewige Strafe. Auch über diesen Gegenstand kann
ich mich auf frühere Ausführungen berufen, in denen ich den prinzi-
piellen Unterschied hervorhob zwischen einer Religion, welche sich an
die rein egoistischen Regungen des Herzens wendet, an Furcht und
Begehr, und einer Religion, welche, wie die Brahmanische, »die Verzicht-
leistung auf einen Genuss des Lohnes hier und im Jenseits« als die erste
Stufe zur Einweihung in wahre Frömmigkeit betrachtet.1) Ich will mich
nicht wiederholen; doch sind wir jetzt in der Lage, jene Einsicht be-
deutend zu vertiefen und dadurch wird man erst klar erkennen, welch
unausbleiblicher und nie beizulegender Konflikt sich auch hier aus dem
gewaltsamen Zusammenschweissen entgegengesetzter Weltanschauungen
ergeben musste. Denn die geringste Überlegung wird uns davon über-
zeugen, dass die Vorstellung der Erlösung und der Willensumkehr, wie
sie den Indoeuropäern schon vielfach vorgeschwebt hatte und wie sie
durch den Mund des Heilandes ewigen Ausdruck fand, von allen jenen
gänzlich abweicht, welche das irdische Thun durch posthume Bestrafung
und Belohnung vergelten lassen.2) Hier findet nicht allein eine Ab-

1) Siehe den Exkurs über semitische Religion im fünften Kapitel und vergl.
namentlich S. 413 mit S. 426. Vergl. auch zur Ergänzung die Ausführungen über
germanische Weltanschauung im betreffenden Abschnitt des neunten Kapitels.
2) Am durchgebildetsten findet sich dieses System bei den Altägyptern, nach
deren Vorstellungen das Herz des Gestorbenen auf eine Wage gelegt und gegen
das Ideal des Rechtes und der Wahrhaftigkeit abgewogen wird; die Idee einer
durch göttliche Gnade bewirkten Umwandlung des inneren Menschen war ihnen voll-
kommen fremd. Die Juden haben sich nie zu der Höhe der ägyptischen Vor-
stellung hinaufgeschwungen; der Lohn war für sie früher einfach sehr langes Leben
des Individuums und künftige Weltherrschaft der Nation, die Strafe Tod und für
die kommenden Geschlechter Elend. In späteren Zeiten nahmen sie jedoch aller-
hand Superstitionen auf, aus denen sich ein durchaus weltlich gedachtes Gottesreich
ergab (siehe S. 449) und als Gegenstück eine recht weltliche Hölle. Aus diesen und
anderen, aus den tiefsten Niederungen menschlichen Wahnwitzes und Aberglaubens
emporsprossenden Vorstellungen wurde dann die christliche Hölle (von der noch
Origenes nichts wusste, ausser in der Form von Gewissensqualen!) gezimmert,
während der Neoplatonismus, griechische Dichtung und ägyptische Vorstellungen
der »Gefilde der Seligen« (siehe die Abbildungen in Budge: The book of the dead)
den christlichen Himmel lieferten — doch ohne dass dieser jemals die Deutlichkeit
der Hölle erreicht hätte.
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[573/0052] Religion. Doch nicht allein das Rückgrat wurde von der werdenden christ- lichen Kirche dem Judentum entlehnt, sondern vielmehr das ganze innere Knochengerüst. Da wäre in allererster Reihe auf die Motivierung des Glaubens und der Tugend hinzuweisen: sie ist im kirchlichen Christen- tum durch und durch jüdisch, denn sie beruht auf Furcht und Hoffnung: hie ewiger Lohn, dort ewige Strafe. Auch über diesen Gegenstand kann ich mich auf frühere Ausführungen berufen, in denen ich den prinzi- piellen Unterschied hervorhob zwischen einer Religion, welche sich an die rein egoistischen Regungen des Herzens wendet, an Furcht und Begehr, und einer Religion, welche, wie die Brahmanische, »die Verzicht- leistung auf einen Genuss des Lohnes hier und im Jenseits« als die erste Stufe zur Einweihung in wahre Frömmigkeit betrachtet. 1) Ich will mich nicht wiederholen; doch sind wir jetzt in der Lage, jene Einsicht be- deutend zu vertiefen und dadurch wird man erst klar erkennen, welch unausbleiblicher und nie beizulegender Konflikt sich auch hier aus dem gewaltsamen Zusammenschweissen entgegengesetzter Weltanschauungen ergeben musste. Denn die geringste Überlegung wird uns davon über- zeugen, dass die Vorstellung der Erlösung und der Willensumkehr, wie sie den Indoeuropäern schon vielfach vorgeschwebt hatte und wie sie durch den Mund des Heilandes ewigen Ausdruck fand, von allen jenen gänzlich abweicht, welche das irdische Thun durch posthume Bestrafung und Belohnung vergelten lassen. 2) Hier findet nicht allein eine Ab- 1) Siehe den Exkurs über semitische Religion im fünften Kapitel und vergl. namentlich S. 413 mit S. 426. Vergl. auch zur Ergänzung die Ausführungen über germanische Weltanschauung im betreffenden Abschnitt des neunten Kapitels. 2) Am durchgebildetsten findet sich dieses System bei den Altägyptern, nach deren Vorstellungen das Herz des Gestorbenen auf eine Wage gelegt und gegen das Ideal des Rechtes und der Wahrhaftigkeit abgewogen wird; die Idee einer durch göttliche Gnade bewirkten Umwandlung des inneren Menschen war ihnen voll- kommen fremd. Die Juden haben sich nie zu der Höhe der ägyptischen Vor- stellung hinaufgeschwungen; der Lohn war für sie früher einfach sehr langes Leben des Individuums und künftige Weltherrschaft der Nation, die Strafe Tod und für die kommenden Geschlechter Elend. In späteren Zeiten nahmen sie jedoch aller- hand Superstitionen auf, aus denen sich ein durchaus weltlich gedachtes Gottesreich ergab (siehe S. 449) und als Gegenstück eine recht weltliche Hölle. Aus diesen und anderen, aus den tiefsten Niederungen menschlichen Wahnwitzes und Aberglaubens emporsprossenden Vorstellungen wurde dann die christliche Hölle (von der noch Origenes nichts wusste, ausser in der Form von Gewissensqualen!) gezimmert, während der Neoplatonismus, griechische Dichtung und ägyptische Vorstellungen der »Gefilde der Seligen« (siehe die Abbildungen in Budge: The book of the dead) den christlichen Himmel lieferten — doch ohne dass dieser jemals die Deutlichkeit der Hölle erreicht hätte.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/52>, abgerufen am 09.11.2024.