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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
schnell hinweggleiten.1) Das eine Concilium verlief allerdings derartig,
dass es selbst in römisch-katholischen Werken als "die Räubersynode"
bezeichnet wird; doch fiele es einem Unparteiischen schwer zu ent-
scheiden, welche Synode diesen Ehrentitel am meisten verdient hat.
Nirgends ging es würdeloser zu als gerade auf dem berühmten dritten
ökumenischen Konzil zu Ephesus, wo die Partei der sogenannten
Orthodoxie, d. h. diejenige, welche alles weitere Denken knebeln wollte,
eine ganze Armee von bewaffneten Bauern, Sklaven und Mönchen in die
Stadt brachte, um die gegnerischen Bischöfe einzuschüchtern, nieder-
zuschreien und im Notfalle totzuschlagen. Das war freilich eine andere
Art, Theologie und Kosmologie zu betreiben, als die hellenische! Viel-
leicht war es die richtige für diese jämmerliche Zeit und für diese
jämmerlichen Menschen. Wozu noch eine wichtige Erwägung kommt:
ich wenigstens für meine Person, und trotz meiner Abneigung gegen
jenes in Rom verkörperte Völkerchaos, glaube, dass Rom durch die
Betonung des Konkreten dem Abstrakten gegenüber der Religion einen
Dienst geleistet und vor der Gefahr gänzlicher Verflüchtigung und
Zersplitterung gerettet hat. Dennoch wäre es lächerlich, eine besondere
Bewunderung für so bornierte und gemeine Charaktere wie Cyrillus,
den Mörder der edlen Hypatia, und eine besondere Ehrfurcht vor
Konzilien wie dem von ihm präsidierten zu Ephesus zu empfinden,
welches der Kaiser selber (Theodosius der Jüngere) als eine "schmähliche
und unheilvolle Versammlung" bezeichnete, und welches er eigen-
mächtig auflösen musste, um den gegenseitigen Injurien und den
rohen Gewaltthätigkeiten der heiligen Hirten ein Ende zu machen.

Schon auf diesem ökumenischen Konzil zu Ephesus stand das
eigentliche hellenische Thema, die mythologische Mystik, nicht mehr
im Vordergrund; denn nun hatte die specifisch römische Dogmen-
bildung begonnen und zwar mit der Einführung des Marienkultus und
des Kultus des Christkindes. Dass dies ein ägyptischer Import war
und im ganzen Bereich des römischen Imperiums, namentlich aber
in Italien schon längst eingebürgert, habe ich oben erwähnt.2) Gegen
die erst zu Beginn des 5. Jahrhunderts innerhalb des Christentums
in Gebrauch gekommene Benennung "Mutter Gottes" (statt Mutter
Christi) war der edle und fast fanatisch rechtgläubige Nestorius auf-

1) Trotz aller neuen Werke möchte ich dem Ungelehrten noch immer
Kapitel 47 aus Gibbon's Roman Empire mindestens für eine vorläufige Übersicht
als unerreicht empfehlen.
2) Siehe S. 557.

Religion.
schnell hinweggleiten.1) Das eine Concilium verlief allerdings derartig,
dass es selbst in römisch-katholischen Werken als »die Räubersynode«
bezeichnet wird; doch fiele es einem Unparteiischen schwer zu ent-
scheiden, welche Synode diesen Ehrentitel am meisten verdient hat.
Nirgends ging es würdeloser zu als gerade auf dem berühmten dritten
ökumenischen Konzil zu Ephesus, wo die Partei der sogenannten
Orthodoxie, d. h. diejenige, welche alles weitere Denken knebeln wollte,
eine ganze Armee von bewaffneten Bauern, Sklaven und Mönchen in die
Stadt brachte, um die gegnerischen Bischöfe einzuschüchtern, nieder-
zuschreien und im Notfalle totzuschlagen. Das war freilich eine andere
Art, Theologie und Kosmologie zu betreiben, als die hellenische! Viel-
leicht war es die richtige für diese jämmerliche Zeit und für diese
jämmerlichen Menschen. Wozu noch eine wichtige Erwägung kommt:
ich wenigstens für meine Person, und trotz meiner Abneigung gegen
jenes in Rom verkörperte Völkerchaos, glaube, dass Rom durch die
Betonung des Konkreten dem Abstrakten gegenüber der Religion einen
Dienst geleistet und vor der Gefahr gänzlicher Verflüchtigung und
Zersplitterung gerettet hat. Dennoch wäre es lächerlich, eine besondere
Bewunderung für so bornierte und gemeine Charaktere wie Cyrillus,
den Mörder der edlen Hypatia, und eine besondere Ehrfurcht vor
Konzilien wie dem von ihm präsidierten zu Ephesus zu empfinden,
welches der Kaiser selber (Theodosius der Jüngere) als eine »schmähliche
und unheilvolle Versammlung« bezeichnete, und welches er eigen-
mächtig auflösen musste, um den gegenseitigen Injurien und den
rohen Gewaltthätigkeiten der heiligen Hirten ein Ende zu machen.

Schon auf diesem ökumenischen Konzil zu Ephesus stand das
eigentliche hellenische Thema, die mythologische Mystik, nicht mehr
im Vordergrund; denn nun hatte die specifisch römische Dogmen-
bildung begonnen und zwar mit der Einführung des Marienkultus und
des Kultus des Christkindes. Dass dies ein ägyptischer Import war
und im ganzen Bereich des römischen Imperiums, namentlich aber
in Italien schon längst eingebürgert, habe ich oben erwähnt.2) Gegen
die erst zu Beginn des 5. Jahrhunderts innerhalb des Christentums
in Gebrauch gekommene Benennung »Mutter Gottes« (statt Mutter
Christi) war der edle und fast fanatisch rechtgläubige Nestorius auf-

1) Trotz aller neuen Werke möchte ich dem Ungelehrten noch immer
Kapitel 47 aus Gibbon’s Roman Empire mindestens für eine vorläufige Übersicht
als unerreicht empfehlen.
2) Siehe S. 557.
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[605/0084] Religion. schnell hinweggleiten. 1) Das eine Concilium verlief allerdings derartig, dass es selbst in römisch-katholischen Werken als »die Räubersynode« bezeichnet wird; doch fiele es einem Unparteiischen schwer zu ent- scheiden, welche Synode diesen Ehrentitel am meisten verdient hat. Nirgends ging es würdeloser zu als gerade auf dem berühmten dritten ökumenischen Konzil zu Ephesus, wo die Partei der sogenannten Orthodoxie, d. h. diejenige, welche alles weitere Denken knebeln wollte, eine ganze Armee von bewaffneten Bauern, Sklaven und Mönchen in die Stadt brachte, um die gegnerischen Bischöfe einzuschüchtern, nieder- zuschreien und im Notfalle totzuschlagen. Das war freilich eine andere Art, Theologie und Kosmologie zu betreiben, als die hellenische! Viel- leicht war es die richtige für diese jämmerliche Zeit und für diese jämmerlichen Menschen. Wozu noch eine wichtige Erwägung kommt: ich wenigstens für meine Person, und trotz meiner Abneigung gegen jenes in Rom verkörperte Völkerchaos, glaube, dass Rom durch die Betonung des Konkreten dem Abstrakten gegenüber der Religion einen Dienst geleistet und vor der Gefahr gänzlicher Verflüchtigung und Zersplitterung gerettet hat. Dennoch wäre es lächerlich, eine besondere Bewunderung für so bornierte und gemeine Charaktere wie Cyrillus, den Mörder der edlen Hypatia, und eine besondere Ehrfurcht vor Konzilien wie dem von ihm präsidierten zu Ephesus zu empfinden, welches der Kaiser selber (Theodosius der Jüngere) als eine »schmähliche und unheilvolle Versammlung« bezeichnete, und welches er eigen- mächtig auflösen musste, um den gegenseitigen Injurien und den rohen Gewaltthätigkeiten der heiligen Hirten ein Ende zu machen. Schon auf diesem ökumenischen Konzil zu Ephesus stand das eigentliche hellenische Thema, die mythologische Mystik, nicht mehr im Vordergrund; denn nun hatte die specifisch römische Dogmen- bildung begonnen und zwar mit der Einführung des Marienkultus und des Kultus des Christkindes. Dass dies ein ägyptischer Import war und im ganzen Bereich des römischen Imperiums, namentlich aber in Italien schon längst eingebürgert, habe ich oben erwähnt. 2) Gegen die erst zu Beginn des 5. Jahrhunderts innerhalb des Christentums in Gebrauch gekommene Benennung »Mutter Gottes« (statt Mutter Christi) war der edle und fast fanatisch rechtgläubige Nestorius auf- 1) Trotz aller neuen Werke möchte ich dem Ungelehrten noch immer Kapitel 47 aus Gibbon’s Roman Empire mindestens für eine vorläufige Übersicht als unerreicht empfehlen. 2) Siehe S. 557.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/84>, abgerufen am 09.11.2024.