Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Der Kampf. Stuhle irgend eine dogmatische Entscheidung verlautbart hätte? lesenwir nicht in jenem mit Recht berühmten Briefe des Anonymen an Diognet, aus den urältesten christlichen Zeiten: "Unsichtbar ist die Religion der Christen"?1) Renan sagt: "Les chretiens primitifs sont les moins superstitieux des hommes .... chez eux, pas d'amulettes, pas d'images saintes, pas d'objet de culte".2) Hand in Hand hiermit geht eine grosse religiöse Freiheit. Im 2. Jahrhundert bezeugt Celsus, die Christen wichen weit voneinander ab in ihren Deutungen und Theorien, alle nur durch das eine Bekenntnis geeinigt: "durch Jesus Christus ist mir die Welt gekreuziget und ich der Welt"!3) Grösst- mögliche Innerlichkeit der Religion, weitestgehende Vereinfachung ihrer äusseren Kundgebung, Freiheit des individuellen Glaubens: das ist der Charakter des frühen Christentums überhaupt, das ist keine spätere, von Germanen erfundene Verklärung. Diese Freiheit war so gross, dass selbst im Abendland, wo doch Rom von Beginn an vorherrschte, Jahrhunderte hindurch jedes Land, ja oft jede Stadt mit ihrem Sprengel ein eigenes Glaubensbekenntnis besass.4) Wir nordischen Männer waren viel zu praktisch-weltlich angelegt, zu viel mit staatlichen Organisationen und Handelsinteressen und Wissenschaften beschäftigt, um jemals auf diesen echtesten Protestantismus aus der vorrömischen Zeit zurückzugreifen. Ausserdem hatten diese frühen Christen es auch besser gehabt als wir: der Schatten des theokratisch umgestalteten römischen Imperialgedankens war noch gar nicht über sie gefallen. Dagegen war es gerade eine verhängnisvolle Charakteristik der nordischen Bewegung, dass sie zu- nächst immer als Reaktion auftreten, dass sie immer niederreissen musste, ehe sie ans Aufbauen denken konnte. Gerade dieser negative Charakter gestattet jedoch eine schier unübersehbare Menge sehr verschiedenartiger historischer Fakten unter den einen Begriff zu ver- einigen: Empörung gegen Rom. Von dem Auftreten des Vigi- lantius an, im 4. Jahrhundert (gegen den die Wohlfahrt der Völker bedrohenden Unfug des Mönchtums), bis zu Bismarck's Kampf gegen die Jesuiten: ein Zug der Verwandtschaft verbindet alle diese Be- wegungen; denn wie verschieden auch der Impuls sein mag, der zur 1) § 6. 2) Origines du Christianisme, 7. ed., VII, 629. 3) Vergl. Origenes: Gegen Celsus V, 64. 4) Vergl. Harnack: Das apostolische Glaubensbekenntnis, 27. Auflage, S. 9. Die
Abweichungen sind nicht unbedeutend. Das jetzige sogenannte "apostolische Sym- bolum" kam erst im 9. Jahrhundert in Gebrauch. Der Kampf. Stuhle irgend eine dogmatische Entscheidung verlautbart hätte? lesenwir nicht in jenem mit Recht berühmten Briefe des Anonymen an Diognet, aus den urältesten christlichen Zeiten: »Unsichtbar ist die Religion der Christen«?1) Renan sagt: »Les chrétiens primitifs sont les moins superstitieux des hommes .... chez eux, pas d’amulettes, pas d’images saintes, pas d’objet de culte«.2) Hand in Hand hiermit geht eine grosse religiöse Freiheit. Im 2. Jahrhundert bezeugt Celsus, die Christen wichen weit voneinander ab in ihren Deutungen und Theorien, alle nur durch das eine Bekenntnis geeinigt: »durch Jesus Christus ist mir die Welt gekreuziget und ich der Welt«!3) Grösst- mögliche Innerlichkeit der Religion, weitestgehende Vereinfachung ihrer äusseren Kundgebung, Freiheit des individuellen Glaubens: das ist der Charakter des frühen Christentums überhaupt, das ist keine spätere, von Germanen erfundene Verklärung. Diese Freiheit war so gross, dass selbst im Abendland, wo doch Rom von Beginn an vorherrschte, Jahrhunderte hindurch jedes Land, ja oft jede Stadt mit ihrem Sprengel ein eigenes Glaubensbekenntnis besass.4) Wir nordischen Männer waren viel zu praktisch-weltlich angelegt, zu viel mit staatlichen Organisationen und Handelsinteressen und Wissenschaften beschäftigt, um jemals auf diesen echtesten Protestantismus aus der vorrömischen Zeit zurückzugreifen. Ausserdem hatten diese frühen Christen es auch besser gehabt als wir: der Schatten des theokratisch umgestalteten römischen Imperialgedankens war noch gar nicht über sie gefallen. Dagegen war es gerade eine verhängnisvolle Charakteristik der nordischen Bewegung, dass sie zu- nächst immer als Reaktion auftreten, dass sie immer niederreissen musste, ehe sie ans Aufbauen denken konnte. Gerade dieser negative Charakter gestattet jedoch eine schier unübersehbare Menge sehr verschiedenartiger historischer Fakten unter den einen Begriff zu ver- einigen: Empörung gegen Rom. Von dem Auftreten des Vigi- lantius an, im 4. Jahrhundert (gegen den die Wohlfahrt der Völker bedrohenden Unfug des Mönchtums), bis zu Bismarck’s Kampf gegen die Jesuiten: ein Zug der Verwandtschaft verbindet alle diese Be- wegungen; denn wie verschieden auch der Impuls sein mag, der zur 1) § 6. 2) Origines du Christianisme, 7. éd., VII, 629. 3) Vergl. Origenes: Gegen Celsus V, 64. 4) Vergl. Harnack: Das apostolische Glaubensbekenntnis, 27. Auflage, S. 9. Die
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Stuhle irgend eine dogmatische Entscheidung verlautbart hätte? lesen
wir nicht in jenem mit Recht berühmten Briefe des Anonymen an
Diognet, aus den urältesten christlichen Zeiten: »Unsichtbar ist die
Religion der Christen«? 1) Renan sagt: »Les chrétiens primitifs
sont les moins superstitieux des hommes .... chez eux, pas d’amulettes,
pas d’images saintes, pas d’objet de culte«. 2) Hand in Hand hiermit
geht eine grosse religiöse Freiheit. Im 2. Jahrhundert bezeugt Celsus,
die Christen wichen weit voneinander ab in ihren Deutungen und
Theorien, alle nur durch das eine Bekenntnis geeinigt: »durch Jesus
Christus ist mir die Welt gekreuziget und ich der Welt«! 3) Grösst-
mögliche Innerlichkeit der Religion, weitestgehende Vereinfachung ihrer
äusseren Kundgebung, Freiheit des individuellen Glaubens: das ist der
Charakter des frühen Christentums überhaupt, das ist keine spätere, von
Germanen erfundene Verklärung. Diese Freiheit war so gross, dass selbst
im Abendland, wo doch Rom von Beginn an vorherrschte, Jahrhunderte
hindurch jedes Land, ja oft jede Stadt mit ihrem Sprengel ein eigenes
Glaubensbekenntnis besass. 4) Wir nordischen Männer waren viel zu
praktisch-weltlich angelegt, zu viel mit staatlichen Organisationen und
Handelsinteressen und Wissenschaften beschäftigt, um jemals auf diesen
echtesten Protestantismus aus der vorrömischen Zeit zurückzugreifen.
Ausserdem hatten diese frühen Christen es auch besser gehabt als wir:
der Schatten des theokratisch umgestalteten römischen Imperialgedankens
war noch gar nicht über sie gefallen. Dagegen war es gerade eine
verhängnisvolle Charakteristik der nordischen Bewegung, dass sie zu-
nächst immer als Reaktion auftreten, dass sie immer niederreissen
musste, ehe sie ans Aufbauen denken konnte. Gerade dieser negative
Charakter gestattet jedoch eine schier unübersehbare Menge sehr
verschiedenartiger historischer Fakten unter den einen Begriff zu ver-
einigen: Empörung gegen Rom. Von dem Auftreten des Vigi-
lantius an, im 4. Jahrhundert (gegen den die Wohlfahrt der Völker
bedrohenden Unfug des Mönchtums), bis zu Bismarck’s Kampf gegen
die Jesuiten: ein Zug der Verwandtschaft verbindet alle diese Be-
wegungen; denn wie verschieden auch der Impuls sein mag, der zur
1) § 6.
2) Origines du Christianisme, 7. éd., VII, 629.
3) Vergl. Origenes: Gegen Celsus V, 64.
4) Vergl. Harnack: Das apostolische Glaubensbekenntnis, 27. Auflage, S. 9. Die
Abweichungen sind nicht unbedeutend. Das jetzige sogenannte »apostolische Sym-
bolum« kam erst im 9. Jahrhundert in Gebrauch.
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