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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
unumschränkt) weiter zurückreicht und fester wurzelt als irgend eine
evangelische Tradition oder Lehre. Keiner nun von jenen oben-
genannten wirklichen Protestanten -- denn sie, und nicht die aus der
römischen Kirche Ausgetretenen verdienen diese negative Bezeichnung --
keiner übte irgend einen dauernden Einfluss aus; innerhalb dieses fest-
gefügten Rahmens war es ein Ding der Unmöglichkeit. Nimmt man
ausführlichere Kirchengeschichten zur Hand, so ist man erstaunt über
die grosse Anzahl hervorragender katholischer Männer, welche ihr
ganzes Leben der Verinnerlichung der Religion, dem Kampf gegen
materialistische Auffassungen, der Verbreitung augustinischer Lehren,
der Abschaffung priesterlichen Unfugs u. s. w. widmeten; doch ihr
Wirken blieb spurlos verloren. Um innerhalb dieser Kirche Dauerndes
zu leisten, mussten bedeutende Persönlichkeiten entweder, wie Augu-
stinus, sich selber widersprechen, oder, wie Thomas von Aquin, den
spezifisch römischen Gedanken bei der Wurzel erfassen und die eigene
Individualität resolut von Jugend auf darnach umbilden. Sonst blieb
nur ein einziger Ausweg: die völlige Emanzipation. Wer mit Martin
Luther ausrief: "Es ist aus mit dem römischen Stuhl!"1) -- der gab
den hoffnungslosen, widerspruchsvollen Kampf auf, in welchem zuerst
der hellenische Osten, nachher der ganze Norden, soweit er in ihm
verharrte, besiegt zu Grunde ging; zugleich ermöglichte er, und er
allein, nationale Wiedergeburt, da wer von Rom sich lossagt, zugleich
den Imperiumsgedanken abschüttelt.

So weit kam es in der Zeit, die uns hier beschäftigt -- mit
alleiniger Ausnahme der beginnenden Waldenserbewegung -- nicht.
Der Kampf zwischen Nord und Süd war und blieb ein ungleicher,
innerhalb einer für autoritativ gehaltenen Kirche ausgefochtener. Sekten
gab es unzählige, doch zumeist rein theologische; allenfalls hätte das
Arianertum ein spezifisch germanisches Christentum abgeben können,
doch fehlten seinen Bekennern die kulturellen Voraussetzungen, um
propagandistisch wirken und ihren Standpunkt vertreten zu können;
dagegen haben sich die armen Waldenser, trotzdem Rom sie zu wieder-
holten Malen (zuletzt im Jahre 1685) alle -- soweit man ihrer habhaft
werden konnte -- hinschlachten liess, bis zum heutigen Tage erhalten
und besitzen nunmehr in Rom selbst eine eigene Kirche: ein Beweis,
dass, wer eben so konsequent ist wie Rom, Bestand hat, und sei er
noch so schwach.

1) Sendschreiben des Jahres 1520 an Papst Leo X.

Der Kampf.
unumschränkt) weiter zurückreicht und fester wurzelt als irgend eine
evangelische Tradition oder Lehre. Keiner nun von jenen oben-
genannten wirklichen Protestanten — denn sie, und nicht die aus der
römischen Kirche Ausgetretenen verdienen diese negative Bezeichnung —
keiner übte irgend einen dauernden Einfluss aus; innerhalb dieses fest-
gefügten Rahmens war es ein Ding der Unmöglichkeit. Nimmt man
ausführlichere Kirchengeschichten zur Hand, so ist man erstaunt über
die grosse Anzahl hervorragender katholischer Männer, welche ihr
ganzes Leben der Verinnerlichung der Religion, dem Kampf gegen
materialistische Auffassungen, der Verbreitung augustinischer Lehren,
der Abschaffung priesterlichen Unfugs u. s. w. widmeten; doch ihr
Wirken blieb spurlos verloren. Um innerhalb dieser Kirche Dauerndes
zu leisten, mussten bedeutende Persönlichkeiten entweder, wie Augu-
stinus, sich selber widersprechen, oder, wie Thomas von Aquin, den
spezifisch römischen Gedanken bei der Wurzel erfassen und die eigene
Individualität resolut von Jugend auf darnach umbilden. Sonst blieb
nur ein einziger Ausweg: die völlige Emanzipation. Wer mit Martin
Luther ausrief: »Es ist aus mit dem römischen Stuhl!«1) — der gab
den hoffnungslosen, widerspruchsvollen Kampf auf, in welchem zuerst
der hellenische Osten, nachher der ganze Norden, soweit er in ihm
verharrte, besiegt zu Grunde ging; zugleich ermöglichte er, und er
allein, nationale Wiedergeburt, da wer von Rom sich lossagt, zugleich
den Imperiumsgedanken abschüttelt.

So weit kam es in der Zeit, die uns hier beschäftigt — mit
alleiniger Ausnahme der beginnenden Waldenserbewegung — nicht.
Der Kampf zwischen Nord und Süd war und blieb ein ungleicher,
innerhalb einer für autoritativ gehaltenen Kirche ausgefochtener. Sekten
gab es unzählige, doch zumeist rein theologische; allenfalls hätte das
Arianertum ein spezifisch germanisches Christentum abgeben können,
doch fehlten seinen Bekennern die kulturellen Voraussetzungen, um
propagandistisch wirken und ihren Standpunkt vertreten zu können;
dagegen haben sich die armen Waldenser, trotzdem Rom sie zu wieder-
holten Malen (zuletzt im Jahre 1685) alle — soweit man ihrer habhaft
werden konnte — hinschlachten liess, bis zum heutigen Tage erhalten
und besitzen nunmehr in Rom selbst eine eigene Kirche: ein Beweis,
dass, wer eben so konsequent ist wie Rom, Bestand hat, und sei er
noch so schwach.

1) Sendschreiben des Jahres 1520 an Papst Leo X.
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[616/0095] Der Kampf. unumschränkt) weiter zurückreicht und fester wurzelt als irgend eine evangelische Tradition oder Lehre. Keiner nun von jenen oben- genannten wirklichen Protestanten — denn sie, und nicht die aus der römischen Kirche Ausgetretenen verdienen diese negative Bezeichnung — keiner übte irgend einen dauernden Einfluss aus; innerhalb dieses fest- gefügten Rahmens war es ein Ding der Unmöglichkeit. Nimmt man ausführlichere Kirchengeschichten zur Hand, so ist man erstaunt über die grosse Anzahl hervorragender katholischer Männer, welche ihr ganzes Leben der Verinnerlichung der Religion, dem Kampf gegen materialistische Auffassungen, der Verbreitung augustinischer Lehren, der Abschaffung priesterlichen Unfugs u. s. w. widmeten; doch ihr Wirken blieb spurlos verloren. Um innerhalb dieser Kirche Dauerndes zu leisten, mussten bedeutende Persönlichkeiten entweder, wie Augu- stinus, sich selber widersprechen, oder, wie Thomas von Aquin, den spezifisch römischen Gedanken bei der Wurzel erfassen und die eigene Individualität resolut von Jugend auf darnach umbilden. Sonst blieb nur ein einziger Ausweg: die völlige Emanzipation. Wer mit Martin Luther ausrief: »Es ist aus mit dem römischen Stuhl!« 1) — der gab den hoffnungslosen, widerspruchsvollen Kampf auf, in welchem zuerst der hellenische Osten, nachher der ganze Norden, soweit er in ihm verharrte, besiegt zu Grunde ging; zugleich ermöglichte er, und er allein, nationale Wiedergeburt, da wer von Rom sich lossagt, zugleich den Imperiumsgedanken abschüttelt. So weit kam es in der Zeit, die uns hier beschäftigt — mit alleiniger Ausnahme der beginnenden Waldenserbewegung — nicht. Der Kampf zwischen Nord und Süd war und blieb ein ungleicher, innerhalb einer für autoritativ gehaltenen Kirche ausgefochtener. Sekten gab es unzählige, doch zumeist rein theologische; allenfalls hätte das Arianertum ein spezifisch germanisches Christentum abgeben können, doch fehlten seinen Bekennern die kulturellen Voraussetzungen, um propagandistisch wirken und ihren Standpunkt vertreten zu können; dagegen haben sich die armen Waldenser, trotzdem Rom sie zu wieder- holten Malen (zuletzt im Jahre 1685) alle — soweit man ihrer habhaft werden konnte — hinschlachten liess, bis zum heutigen Tage erhalten und besitzen nunmehr in Rom selbst eine eigene Kirche: ein Beweis, dass, wer eben so konsequent ist wie Rom, Bestand hat, und sei er noch so schwach. 1) Sendschreiben des Jahres 1520 an Papst Leo X.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/95>, abgerufen am 23.11.2024.