Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.Fünfftes Capitel, eine Geschichte daher nur aus seinem eigenen Se-hepunckte betrachtet, so wird manches vorkom- men, welches nach den vorhergehenden Umstän- den unbegreiflich ist; und man merckt also, daß an der Geschichte etwas fehle, was dieselbe be- greiffen zu können nöthig ist. Die Wahrheit, daß ein Zuschauer die mehresten Sachen nicht übersehen, und nach seinem eigenen Sehepunckte allein, nicht in eine förmliche Erzehlung bringen könne, erhellet aus mehreren Exempeln. Bey einer Schlacht ist unmöglich, die grosse Geschich- te aus einem einigen Sehepunckte zu übersehen: weil nicht allein vieles zu weit entfernet ist, son- dern auch manches durch Hügel, Bäume, Häu- ser und Dörffer bedeckt wird. Jedem Zuschauer sind dabey nothwendig viele Dinge verdeckt. Bey einem Friedenscongreß mag einer noch eine so wichtige Person vorstellen, so weiß er doch nicht alles, was wichtiges daselbst vorgehet. Er muß wahrnehmen, daß ein paar Partheyen auf den point sind, einen Particularfrieden zu schlüssen, von deren Tractaten er wenig oder nichts gehöret. Eine so grosse und vortrefliche Erzehlung des West- phälischen Friedens, als das gepriesene von Mayerische Werck ist, hält dennoch von denen Churbrandenburgischen und Chursächsischen Un- terhandlungen wenig in sich: ohne Zweifel, weil in denen Archiven, daraus diese Nachrichten ge- nommen worden, jene Nachrichten nicht häuffig vorhanden gewesen. So ist es bey allen Ge- schichten: jeder Zuschauer hat nur eine gewis- se Aussicht und Einsicht in dieselbe: und das hat
Fuͤnfftes Capitel, eine Geſchichte daher nur aus ſeinem eigenen Se-hepunckte betrachtet, ſo wird manches vorkom- men, welches nach den vorhergehenden Umſtaͤn- den unbegreiflich iſt; und man merckt alſo, daß an der Geſchichte etwas fehle, was dieſelbe be- greiffen zu koͤnnen noͤthig iſt. Die Wahrheit, daß ein Zuſchauer die mehreſten Sachen nicht uͤberſehen, und nach ſeinem eigenen Sehepunckte allein, nicht in eine foͤrmliche Erzehlung bringen koͤnne, erhellet aus mehreren Exempeln. Bey einer Schlacht iſt unmoͤglich, die groſſe Geſchich- te aus einem einigen Sehepunckte zu uͤberſehen: weil nicht allein vieles zu weit entfernet iſt, ſon- dern auch manches durch Huͤgel, Baͤume, Haͤu- ſer und Doͤrffer bedeckt wird. Jedem Zuſchauer ſind dabey nothwendig viele Dinge verdeckt. Bey einem Friedenscongreß mag einer noch eine ſo wichtige Perſon vorſtellen, ſo weiß er doch nicht alles, was wichtiges daſelbſt vorgehet. Er muß wahrnehmen, daß ein paar Partheyen auf den point ſind, einen Particularfrieden zu ſchluͤſſen, von deren Tractaten er wenig oder nichts gehoͤret. Eine ſo groſſe und vortrefliche Erzehlung des Weſt- phaͤliſchen Friedens, als das geprieſene von Mayeriſche Werck iſt, haͤlt dennoch von denen Churbrandenburgiſchen und Churſaͤchſiſchen Un- terhandlungen wenig in ſich: ohne Zweifel, weil in denen Archiven, daraus dieſe Nachrichten ge- nommen worden, jene Nachrichten nicht haͤuffig vorhanden geweſen. So iſt es bey allen Ge- ſchichten: jeder Zuſchauer hat nur eine gewiſ- ſe Ausſicht und Einſicht in dieſelbe: und das hat
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Fuͤnfftes Capitel,
eine Geſchichte daher nur aus ſeinem eigenen Se-
hepunckte betrachtet, ſo wird manches vorkom-
men, welches nach den vorhergehenden Umſtaͤn-
den unbegreiflich iſt; und man merckt alſo, daß
an der Geſchichte etwas fehle, was dieſelbe be-
greiffen zu koͤnnen noͤthig iſt. Die Wahrheit,
daß ein Zuſchauer die mehreſten Sachen nicht
uͤberſehen, und nach ſeinem eigenen Sehepunckte
allein, nicht in eine foͤrmliche Erzehlung bringen
koͤnne, erhellet aus mehreren Exempeln. Bey
einer Schlacht iſt unmoͤglich, die groſſe Geſchich-
te aus einem einigen Sehepunckte zu uͤberſehen:
weil nicht allein vieles zu weit entfernet iſt, ſon-
dern auch manches durch Huͤgel, Baͤume, Haͤu-
ſer und Doͤrffer bedeckt wird. Jedem Zuſchauer
ſind dabey nothwendig viele Dinge verdeckt. Bey
einem Friedenscongreß mag einer noch eine ſo
wichtige Perſon vorſtellen, ſo weiß er doch nicht
alles, was wichtiges daſelbſt vorgehet. Er muß
wahrnehmen, daß ein paar Partheyen auf den
point ſind, einen Particularfrieden zu ſchluͤſſen,
von deren Tractaten er wenig oder nichts gehoͤret.
Eine ſo groſſe und vortrefliche Erzehlung des Weſt-
phaͤliſchen Friedens, als das geprieſene von
Mayeriſche Werck iſt, haͤlt dennoch von denen
Churbrandenburgiſchen und Churſaͤchſiſchen Un-
terhandlungen wenig in ſich: ohne Zweifel, weil
in denen Archiven, daraus dieſe Nachrichten ge-
nommen worden, jene Nachrichten nicht haͤuffig
vorhanden geweſen. So iſt es bey allen Ge-
ſchichten: jeder Zuſchauer hat nur eine gewiſ-
ſe Ausſicht und Einſicht in dieſelbe: und das
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