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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

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v. d. Verwandelung der Geschichte etc.
Sehepunckt nicht seyn (§. 12. C. 5.); und davon
hanget ab, daß er die Sache auf einer gewissen
Seite ansehe (§. 14. C. 5.). Es ist auch nicht
zu verlangen, daß er bey seiner Erzehlung die
Beschaffenheit eines Jnteressenten oder Fremdens
(§. 16. C. 5.): oder des Freundes und Feindes
der Sache (§. 18. C. 5.), eines Gelehrten oder
Ungelehrten (§. 20. C. 5.), eines Betrübten oder
Frölichen (§. 22. C. 5.), gäntzlich ablegen solle.
Die Natur der Seele lässet eine solche Abstracktion
nicht zu, und hebt den Begriff des Zuschauers
auf, von welchem doch alle historische Erkenntniß
abhanget. Nur das vorsetzliche Verdrehen mit
seinen Theilen kan unterlassen werden. Darge-
gen aber irren die sehr, die verlangt haben, daß
ein Geschichtschreiber sich wie ein Mensch ohne
Religion, ohne Vaterland, ohne Familie anstel-
len soll; und haben nicht bedacht, daß sie unmög-
liche Dinge fordern. Dieses aber ist daher kom-
men, weil man den Unterschied zwischen Geschich-
te und Erzehlungen (§. 17. C. 1.) nicht bemerckt,
und also geglaubt haben, wie bey der Geschichte
nichts auf den Zustand des Zuschauers ankomme,
also komme auch nichts bey der Erzehlung darauf
an. Eine Erzehlung also mit völliger Abstrack-
tion von seinem eigenen Sehepunckte, ist nach dem
4. und 5. Capitel nicht möglich. Eine unpar-
theyische
Erzehlung kan also auch nicht so viel
heissen, als eine Sache ohne alle Sehepunckte er-
zehlen, denn das ist einmahl nicht möglich: und
partheyisch erzehlen, kan also auch nicht so viel
heissen, als eine Sache und Geschichte nach sei-

nem
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v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc.
Sehepunckt nicht ſeyn (§. 12. C. 5.); und davon
hanget ab, daß er die Sache auf einer gewiſſen
Seite anſehe (§. 14. C. 5.). Es iſt auch nicht
zu verlangen, daß er bey ſeiner Erzehlung die
Beſchaffenheit eines Jntereſſenten oder Fremdens
(§. 16. C. 5.): oder des Freundes und Feindes
der Sache (§. 18. C. 5.), eines Gelehrten oder
Ungelehrten (§. 20. C. 5.), eines Betruͤbten oder
Froͤlichen (§. 22. C. 5.), gaͤntzlich ablegen ſolle.
Die Natur der Seele laͤſſet eine ſolche Abſtracktion
nicht zu, und hebt den Begriff des Zuſchauers
auf, von welchem doch alle hiſtoriſche Erkenntniß
abhanget. Nur das vorſetzliche Verdrehen mit
ſeinen Theilen kan unterlaſſen werden. Darge-
gen aber irren die ſehr, die verlangt haben, daß
ein Geſchichtſchreiber ſich wie ein Menſch ohne
Religion, ohne Vaterland, ohne Familie anſtel-
len ſoll; und haben nicht bedacht, daß ſie unmoͤg-
liche Dinge fordern. Dieſes aber iſt daher kom-
men, weil man den Unterſchied zwiſchen Geſchich-
te und Erzehlungen (§. 17. C. 1.) nicht bemerckt,
und alſo geglaubt haben, wie bey der Geſchichte
nichts auf den Zuſtand des Zuſchauers ankomme,
alſo komme auch nichts bey der Erzehlung darauf
an. Eine Erzehlung alſo mit voͤlliger Abſtrack-
tion von ſeinem eigenen Sehepunckte, iſt nach dem
4. und 5. Capitel nicht moͤglich. Eine unpar-
theyiſche
Erzehlung kan alſo auch nicht ſo viel
heiſſen, als eine Sache ohne alle Sehepunckte er-
zehlen, denn das iſt einmahl nicht moͤglich: und
partheyiſch erzehlen, kan alſo auch nicht ſo viel
heiſſen, als eine Sache und Geſchichte nach ſei-

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[151/0187] v. d. Verwandelung der Geſchichte ꝛc. Sehepunckt nicht ſeyn (§. 12. C. 5.); und davon hanget ab, daß er die Sache auf einer gewiſſen Seite anſehe (§. 14. C. 5.). Es iſt auch nicht zu verlangen, daß er bey ſeiner Erzehlung die Beſchaffenheit eines Jntereſſenten oder Fremdens (§. 16. C. 5.): oder des Freundes und Feindes der Sache (§. 18. C. 5.), eines Gelehrten oder Ungelehrten (§. 20. C. 5.), eines Betruͤbten oder Froͤlichen (§. 22. C. 5.), gaͤntzlich ablegen ſolle. Die Natur der Seele laͤſſet eine ſolche Abſtracktion nicht zu, und hebt den Begriff des Zuſchauers auf, von welchem doch alle hiſtoriſche Erkenntniß abhanget. Nur das vorſetzliche Verdrehen mit ſeinen Theilen kan unterlaſſen werden. Darge- gen aber irren die ſehr, die verlangt haben, daß ein Geſchichtſchreiber ſich wie ein Menſch ohne Religion, ohne Vaterland, ohne Familie anſtel- len ſoll; und haben nicht bedacht, daß ſie unmoͤg- liche Dinge fordern. Dieſes aber iſt daher kom- men, weil man den Unterſchied zwiſchen Geſchich- te und Erzehlungen (§. 17. C. 1.) nicht bemerckt, und alſo geglaubt haben, wie bey der Geſchichte nichts auf den Zuſtand des Zuſchauers ankomme, alſo komme auch nichts bey der Erzehlung darauf an. Eine Erzehlung alſo mit voͤlliger Abſtrack- tion von ſeinem eigenen Sehepunckte, iſt nach dem 4. und 5. Capitel nicht moͤglich. Eine unpar- theyiſche Erzehlung kan alſo auch nicht ſo viel heiſſen, als eine Sache ohne alle Sehepunckte er- zehlen, denn das iſt einmahl nicht moͤglich: und partheyiſch erzehlen, kan alſo auch nicht ſo viel heiſſen, als eine Sache und Geſchichte nach ſei- nem K 4

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Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/187>, abgerufen am 23.11.2024.