Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.von der Gewißheit der Geschichte etc. haben. Woraus denn folget, daß wir nicht freyeHand der Gewißheit eine Bedeutung beyzulegen, welche wir wollen, noch auch den gemeinen Be- griff, durch Definitionen, die damit nicht genau übereinkommen, zu zerrütten; sondern daß wir in der Theorie der Gewißheit uns beständig an den gemeinen Begriff halten müssen. Wir ge- hen aber im gemeinen Leben mit nachfolgenden Wahrheiten um: 1. Mit demjenigen, was jeder vor sich selbst empfunden, d. i. gesehen, geschmeckt, gefühlt etc. hat. 2. Mit demjenigen allgemeinen Wahrheiten, welche man Erfahrungen nennet: Als daß das Wasser bey grosser Kälte erstarre, daß die Metalle bey starcken Feuer schmeltzen etc. 3. Mit eintzeln Wahrheiten und solchen Erfah- rungen die man aus anderer Leute ihren Aussagen erkannt hat. 4. Man gehet aber sehr wenig mit allgemeinen Wahrheiten, in eigentlichem Ver- stande um; ausser was die Verhältnisse der Zahlen und der Maasse anlanget. Jn Anse- hung der Folgerungen, welche sich aus andern, auch schon im gemeinen Leben bekannten allgemei- nen Begriffen herleiten lassen, kommen wir nicht weiter als auf die Consequentias immediatas, oder höchstens auf einige Corollaria, die aus ein paar Consequentiis immediatis fliessen: Als daß: Wo Berge sind, auch Thäler seyn müssen: Daß zu einem Gespräche zwey Personen gehö- ren: Daß man das Geborgte wiedergeben müsse. Mit tieffsinnigen allgemeinen Wahrheiten, die man in der Logick Theoremata nennet, pflegen wir uns im gemeinen Leben nicht einzulassen. §. 2. S 5
von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc. haben. Woraus denn folget, daß wir nicht freyeHand der Gewißheit eine Bedeutung beyzulegen, welche wir wollen, noch auch den gemeinen Be- griff, durch Definitionen, die damit nicht genau uͤbereinkommen, zu zerruͤtten; ſondern daß wir in der Theorie der Gewißheit uns beſtaͤndig an den gemeinen Begriff halten muͤſſen. Wir ge- hen aber im gemeinen Leben mit nachfolgenden Wahrheiten um: 1. Mit demjenigen, was jeder vor ſich ſelbſt empfunden, d. i. geſehen, geſchmeckt, gefuͤhlt ꝛc. hat. 2. Mit demjenigen allgemeinen Wahrheiten, welche man Erfahrungen nennet: Als daß das Waſſer bey groſſer Kaͤlte erſtarre, daß die Metalle bey ſtarcken Feuer ſchmeltzen ꝛc. 3. Mit eintzeln Wahrheiten und ſolchen Erfah- rungen die man aus anderer Leute ihren Ausſagen erkannt hat. 4. Man gehet aber ſehr wenig mit allgemeinen Wahrheiten, in eigentlichem Ver- ſtande um; auſſer was die Verhaͤltniſſe der Zahlen und der Maaſſe anlanget. Jn Anſe- hung der Folgerungen, welche ſich aus andern, auch ſchon im gemeinen Leben bekannten allgemei- nen Begriffen herleiten laſſen, kommen wir nicht weiter als auf die Conſequentias immediatas, oder hoͤchſtens auf einige Corollaria, die aus ein paar Conſequentiis immediatis flieſſen: Als daß: Wo Berge ſind, auch Thaͤler ſeyn muͤſſen: Daß zu einem Geſpraͤche zwey Perſonen gehoͤ- ren: Daß man das Geborgte wiedergeben muͤſſe. Mit tieffſinnigen allgemeinen Wahrheiten, die man in der Logick Theoremata nennet, pflegen wir uns im gemeinen Leben nicht einzulaſſen. §. 2. S 5
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von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
haben. Woraus denn folget, daß wir nicht freye
Hand der Gewißheit eine Bedeutung beyzulegen,
welche wir wollen, noch auch den gemeinen Be-
griff, durch Definitionen, die damit nicht genau
uͤbereinkommen, zu zerruͤtten; ſondern daß wir
in der Theorie der Gewißheit uns beſtaͤndig an
den gemeinen Begriff halten muͤſſen. Wir ge-
hen aber im gemeinen Leben mit nachfolgenden
Wahrheiten um: 1. Mit demjenigen, was jeder
vor ſich ſelbſt empfunden, d. i. geſehen, geſchmeckt,
gefuͤhlt ꝛc. hat. 2. Mit demjenigen allgemeinen
Wahrheiten, welche man Erfahrungen nennet:
Als daß das Waſſer bey groſſer Kaͤlte erſtarre,
daß die Metalle bey ſtarcken Feuer ſchmeltzen ꝛc.
3. Mit eintzeln Wahrheiten und ſolchen Erfah-
rungen die man aus anderer Leute ihren Ausſagen
erkannt hat. 4. Man gehet aber ſehr wenig mit
allgemeinen Wahrheiten, in eigentlichem Ver-
ſtande um; auſſer was die Verhaͤltniſſe der
Zahlen und der Maaſſe anlanget. Jn Anſe-
hung der Folgerungen, welche ſich aus andern,
auch ſchon im gemeinen Leben bekannten allgemei-
nen Begriffen herleiten laſſen, kommen wir nicht
weiter als auf die Conſequentias immediatas,
oder hoͤchſtens auf einige Corollaria, die aus ein
paar Conſequentiis immediatis flieſſen: Als
daß: Wo Berge ſind, auch Thaͤler ſeyn muͤſſen:
Daß zu einem Geſpraͤche zwey Perſonen gehoͤ-
ren: Daß man das Geborgte wiedergeben muͤſſe.
Mit tieffſinnigen allgemeinen Wahrheiten, die
man in der Logick Theoremata nennet, pflegen
wir uns im gemeinen Leben nicht einzulaſſen.
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Zitationshilfe: | Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/317>, abgerufen am 26.06.2024. |