Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite

Neuntes Capitel,
tet, übereinkomme, oder nicht? erstreckt? Die
Historie hat man in Ansehung der Gewißheit un-
angefochten gelassen. Diese Gedenckart der Phi-
losophen aber hat sich seit einiger Zeit gar sehr ge-
ändert: Dergestalt daß man ietzo fast durchgän-
gig, zwar denen Wissenschafften die Gewißheit
einräumet, welche denen Alten immer nicht ein-
leuchten wollen; aber der historischen Erkentniß,
wenigstens in soferne solche auf Aussagen und Zeug-
nisse beruhet, alle Gewißheit absprechen, und eine
blosse Wahrscheinlichkeit einräumen will.

§. 4.
Wie man darauf gekommen, der Historie die Ge-
wißheit abzusprechen.

Die Veranlassung zu so unstatthaften Leh-
ren ist folgende. Man hat 1. gesehen, daß allge-
meine Wahrheiten,
(wo von doch die Consequen-
tiae immediatae
auszunehmen sind) wenn sie ge-
wiß seyn sollen, demonstrirt werden müssen.

Weil man nun auf die historische Erkentniß, in
der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die
Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der
Erkentniß überhaupt, häuffig vermenget hat:
So ist 2. unvermerckt der Satz entstanden:
Wahrheiten, die gewiß seyn sollen, müssen
demonstrirt werden
: Welches doch nur von
einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt:
nehmlich von Theorematibus. Ja man hat
3. die Demonstration vor die Gewißheit selbst
genommen: Da sie doch nur aus der Demonstra-
tion entstehet. Daraus hat man 4. die Folge ge-

zogen

Neuntes Capitel,
tet, uͤbereinkomme, oder nicht? erſtreckt? Die
Hiſtorie hat man in Anſehung der Gewißheit un-
angefochten gelaſſen. Dieſe Gedenckart der Phi-
loſophen aber hat ſich ſeit einiger Zeit gar ſehr ge-
aͤndert: Dergeſtalt daß man ietzo faſt durchgaͤn-
gig, zwar denen Wiſſenſchafften die Gewißheit
einraͤumet, welche denen Alten immer nicht ein-
leuchten wollen; aber der hiſtoriſchen Erkentniß,
wenigſtens in ſoferne ſolche auf Ausſagen und Zeug-
niſſe beruhet, alle Gewißheit abſprechen, und eine
bloſſe Wahrſcheinlichkeit einraͤumen will.

§. 4.
Wie man darauf gekommen, der Hiſtorie die Ge-
wißheit abzuſprechen.

Die Veranlaſſung zu ſo unſtatthaften Leh-
ren iſt folgende. Man hat 1. geſehen, daß allge-
meine Wahrheiten,
(wo von doch die Conſequen-
tiæ immediatæ
auszunehmen ſind) wenn ſie ge-
wiß ſeyn ſollen, demonſtrirt werden muͤſſen.

Weil man nun auf die hiſtoriſche Erkentniß, in
der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die
Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der
Erkentniß uͤberhaupt, haͤuffig vermenget hat:
So iſt 2. unvermerckt der Satz entſtanden:
Wahrheiten, die gewiß ſeyn ſollen, muͤſſen
demonſtrirt werden
: Welches doch nur von
einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt:
nehmlich von Theorematibus. Ja man hat
3. die Demonſtration vor die Gewißheit ſelbſt
genommen: Da ſie doch nur aus der Demonſtra-
tion entſtehet. Daraus hat man 4. die Folge ge-

zogen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0320" n="284"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Neuntes Capitel,</hi></fw><lb/>
tet, u&#x0364;bereinkomme, oder nicht? er&#x017F;treckt? Die<lb/>
Hi&#x017F;torie hat man in An&#x017F;ehung der Gewißheit un-<lb/>
angefochten gela&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;e Gedenckart der Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophen aber hat &#x017F;ich &#x017F;eit einiger Zeit gar &#x017F;ehr ge-<lb/>
a&#x0364;ndert: Derge&#x017F;talt daß man ietzo fa&#x017F;t durchga&#x0364;n-<lb/>
gig, zwar denen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chafften die Gewißheit<lb/>
einra&#x0364;umet, welche denen Alten immer nicht ein-<lb/>
leuchten wollen; aber der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Erkentniß,<lb/>
wenig&#x017F;tens in &#x017F;oferne &#x017F;olche auf Aus&#x017F;agen und Zeug-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e beruhet, alle Gewißheit ab&#x017F;prechen, und eine<lb/>
blo&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#fr">Wahr&#x017F;cheinlichkeit</hi> einra&#x0364;umen will.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 4.<lb/>
Wie man darauf gekommen, der Hi&#x017F;torie die Ge-<lb/>
wißheit abzu&#x017F;prechen.</head><lb/>
          <p>Die Veranla&#x017F;&#x017F;ung zu &#x017F;o un&#x017F;tatthaften Leh-<lb/>
ren i&#x017F;t folgende. Man hat 1. ge&#x017F;ehen, daß <hi rendition="#fr">allge-<lb/>
meine Wahrheiten,</hi> (wo von doch die <hi rendition="#aq">Con&#x017F;equen-<lb/>
tiæ immediatæ</hi> auszunehmen &#x017F;ind) <hi rendition="#fr">wenn &#x017F;ie ge-<lb/>
wiß &#x017F;eyn &#x017F;ollen, demon&#x017F;trirt werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</hi><lb/>
Weil man nun auf die hi&#x017F;tori&#x017F;che Erkentniß, in<lb/>
der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die<lb/>
Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der<lb/><hi rendition="#fr">Erkentniß u&#x0364;berhaupt,</hi> ha&#x0364;uffig vermenget hat:<lb/>
So i&#x017F;t 2. unvermerckt der Satz ent&#x017F;tanden:<lb/><hi rendition="#fr">Wahrheiten, die gewiß &#x017F;eyn &#x017F;ollen, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
demon&#x017F;trirt werden</hi>: Welches doch nur von<lb/>
einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt:<lb/>
nehmlich von <hi rendition="#aq">Theorematibus.</hi> Ja man hat<lb/>
3. die Demon&#x017F;tration vor die <hi rendition="#fr">Gewißheit</hi> &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
genommen: Da &#x017F;ie doch nur aus der Demon&#x017F;tra-<lb/>
tion ent&#x017F;tehet. Daraus hat man 4. die Folge ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zogen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[284/0320] Neuntes Capitel, tet, uͤbereinkomme, oder nicht? erſtreckt? Die Hiſtorie hat man in Anſehung der Gewißheit un- angefochten gelaſſen. Dieſe Gedenckart der Phi- loſophen aber hat ſich ſeit einiger Zeit gar ſehr ge- aͤndert: Dergeſtalt daß man ietzo faſt durchgaͤn- gig, zwar denen Wiſſenſchafften die Gewißheit einraͤumet, welche denen Alten immer nicht ein- leuchten wollen; aber der hiſtoriſchen Erkentniß, wenigſtens in ſoferne ſolche auf Ausſagen und Zeug- niſſe beruhet, alle Gewißheit abſprechen, und eine bloſſe Wahrſcheinlichkeit einraͤumen will. §. 4. Wie man darauf gekommen, der Hiſtorie die Ge- wißheit abzuſprechen. Die Veranlaſſung zu ſo unſtatthaften Leh- ren iſt folgende. Man hat 1. geſehen, daß allge- meine Wahrheiten, (wo von doch die Conſequen- tiæ immediatæ auszunehmen ſind) wenn ſie ge- wiß ſeyn ſollen, demonſtrirt werden muͤſſen. Weil man nun auf die hiſtoriſche Erkentniß, in der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der Erkentniß uͤberhaupt, haͤuffig vermenget hat: So iſt 2. unvermerckt der Satz entſtanden: Wahrheiten, die gewiß ſeyn ſollen, muͤſſen demonſtrirt werden: Welches doch nur von einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt: nehmlich von Theorematibus. Ja man hat 3. die Demonſtration vor die Gewißheit ſelbſt genommen: Da ſie doch nur aus der Demonſtra- tion entſtehet. Daraus hat man 4. die Folge ge- zogen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/320
Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/320>, abgerufen am 21.11.2024.