bleiben möge, so daß sie niemahls auf das Gegen- theil durch Ungewißheit verfallen.
§. 8. Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit.
Es ist also zu untersuchen, woher es komme, daß ein Urtheil, welches wir einmahl gefället, unver- ändert verbleibe? und woher wir wissen können, daß solches geschehen werde? So viel siehet man leichte, daß ein falsches Urtheil nicht völlig gewiß seyn könne, und daß also die Wahrheit bey der Gewißheit zu Grunde gelegt werden müsse; ob- gleich auch die Unwahrheiten sich unglaublich tieff einzuprägen pflegen, und denen Leuten öffters eine lange Zeit gewiß sind. Ja! die Menschen hafften offt stärcker an der Lügen, als an der Wahrheit. Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen Vorzug vor der Unwahrheit und Lügen hat; so ist es allemahl möglich, daß man endlich seinen Jrr- thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß: daß also bey Jrrthümern und Lügen keine Ge- wißheit im eigentlichen Verstande, sondern nur auf eine gewisse Zeit abzusehen ist; welches aber freylich eher Trotz, Blindheit, Tummheit, als Gewißheit zu nennen ist. Es ist aber zur Ge- wißheit nicht genug, daß die Sache wahr ist. Denn vermöge der Erfahrung können auch Jrr- thümer und Lügen den Schein der Wahrheit bekom- men, und hingegen die Wahrheit kan ausser dem Zusammenhange ohne ihren Gründen, worauf sie beruhet, ja auch wohl verstimmlet vorgetragen
und
T
von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
bleiben moͤge, ſo daß ſie niemahls auf das Gegen- theil durch Ungewißheit verfallen.
§. 8. Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit.
Es iſt alſo zu unterſuchen, woher es komme, daß ein Urtheil, welches wir einmahl gefaͤllet, unver- aͤndert verbleibe? und woher wir wiſſen koͤnnen, daß ſolches geſchehen werde? So viel ſiehet man leichte, daß ein falſches Urtheil nicht voͤllig gewiß ſeyn koͤnne, und daß alſo die Wahrheit bey der Gewißheit zu Grunde gelegt werden muͤſſe; ob- gleich auch die Unwahrheiten ſich unglaublich tieff einzupraͤgen pflegen, und denen Leuten oͤffters eine lange Zeit gewiß ſind. Ja! die Menſchen hafften offt ſtaͤrcker an der Luͤgen, als an der Wahrheit. Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen Vorzug vor der Unwahrheit und Luͤgen hat; ſo iſt es allemahl moͤglich, daß man endlich ſeinen Jrr- thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß: daß alſo bey Jrrthuͤmern und Luͤgen keine Ge- wißheit im eigentlichen Verſtande, ſondern nur auf eine gewiſſe Zeit abzuſehen iſt; welches aber freylich eher Trotz, Blindheit, Tummheit, als Gewißheit zu nennen iſt. Es iſt aber zur Ge- wißheit nicht genug, daß die Sache wahr iſt. Denn vermoͤge der Erfahrung koͤnnen auch Jrr- thuͤmer und Luͤgen den Schein der Wahrheit bekom- men, und hingegen die Wahrheit kan auſſer dem Zuſammenhange ohne ihren Gruͤnden, worauf ſie beruhet, ja auch wohl verſtimmlet vorgetragen
und
T
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0325"n="289"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.</hi></fw><lb/>
bleiben moͤge, ſo daß ſie niemahls auf das Gegen-<lb/>
theil durch Ungewißheit verfallen.</p></div><lb/><divn="2"><head>§. 8.<lb/>
Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit.</head><lb/><p>Es iſt alſo zu unterſuchen, woher es komme, daß<lb/>
ein Urtheil, welches wir einmahl gefaͤllet, <hirendition="#fr">unver-<lb/>
aͤndert</hi> verbleibe? und woher wir wiſſen koͤnnen,<lb/>
daß ſolches geſchehen werde? So viel ſiehet man<lb/>
leichte, daß ein falſches Urtheil nicht voͤllig gewiß<lb/>ſeyn koͤnne, und daß alſo die <hirendition="#fr">Wahrheit</hi> bey der<lb/>
Gewißheit zu Grunde gelegt werden muͤſſe; ob-<lb/>
gleich auch die Unwahrheiten ſich unglaublich tieff<lb/>
einzupraͤgen pflegen, und denen Leuten oͤffters eine<lb/>
lange Zeit gewiß ſind. Ja! die Menſchen hafften<lb/>
offt ſtaͤrcker an der Luͤgen, als an der Wahrheit.<lb/>
Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen<lb/>
Vorzug vor der Unwahrheit und Luͤgen hat; ſo iſt<lb/>
es allemahl moͤglich, daß man endlich ſeinen Jrr-<lb/>
thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß:<lb/>
daß alſo bey Jrrthuͤmern und Luͤgen keine <hirendition="#fr">Ge-<lb/>
wißheit</hi> im eigentlichen Verſtande, ſondern nur<lb/><hirendition="#fr">auf eine gewiſſe Zeit</hi> abzuſehen iſt; welches aber<lb/>
freylich eher <hirendition="#fr">Trotz, Blindheit, Tummheit,</hi><lb/>
als Gewißheit zu nennen iſt. Es iſt aber zur Ge-<lb/>
wißheit nicht genug, daß die Sache <hirendition="#fr">wahr</hi> iſt.<lb/>
Denn vermoͤge der Erfahrung koͤnnen auch Jrr-<lb/>
thuͤmer und Luͤgen den Schein der Wahrheit bekom-<lb/>
men, und hingegen die <hirendition="#fr">Wahrheit</hi> kan auſſer<lb/>
dem Zuſammenhange ohne ihren Gruͤnden, worauf<lb/>ſie beruhet, ja auch wohl verſtimmlet vorgetragen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">T</fw><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[289/0325]
von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
bleiben moͤge, ſo daß ſie niemahls auf das Gegen-
theil durch Ungewißheit verfallen.
§. 8.
Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit.
Es iſt alſo zu unterſuchen, woher es komme, daß
ein Urtheil, welches wir einmahl gefaͤllet, unver-
aͤndert verbleibe? und woher wir wiſſen koͤnnen,
daß ſolches geſchehen werde? So viel ſiehet man
leichte, daß ein falſches Urtheil nicht voͤllig gewiß
ſeyn koͤnne, und daß alſo die Wahrheit bey der
Gewißheit zu Grunde gelegt werden muͤſſe; ob-
gleich auch die Unwahrheiten ſich unglaublich tieff
einzupraͤgen pflegen, und denen Leuten oͤffters eine
lange Zeit gewiß ſind. Ja! die Menſchen hafften
offt ſtaͤrcker an der Luͤgen, als an der Wahrheit.
Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen
Vorzug vor der Unwahrheit und Luͤgen hat; ſo iſt
es allemahl moͤglich, daß man endlich ſeinen Jrr-
thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß:
daß alſo bey Jrrthuͤmern und Luͤgen keine Ge-
wißheit im eigentlichen Verſtande, ſondern nur
auf eine gewiſſe Zeit abzuſehen iſt; welches aber
freylich eher Trotz, Blindheit, Tummheit,
als Gewißheit zu nennen iſt. Es iſt aber zur Ge-
wißheit nicht genug, daß die Sache wahr iſt.
Denn vermoͤge der Erfahrung koͤnnen auch Jrr-
thuͤmer und Luͤgen den Schein der Wahrheit bekom-
men, und hingegen die Wahrheit kan auſſer
dem Zuſammenhange ohne ihren Gruͤnden, worauf
ſie beruhet, ja auch wohl verſtimmlet vorgetragen
und
T
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/325>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.