stehen werde. Jn der gemeinen Erkentniß hat man nehmlich davon zu wenige Exempel, und keine Theorie gar nicht, daraus man von der Sache urthei- len könte. Wenn ein Erdbeben entstehet, so weiß noch kein Mensch nicht, was er von dem Fortgange vermuthen soll, woraus denn mehr Furcht und Schrecken zu entstehen pfleget, als aus dem grösten vorhandenen Uebel. Wer also bey solchen Dingen besondere Gelegenheit hat, Erfahrungen zu sammlen, oder eine Theorie zu ersinnen, der wird in Ansehung eines solchen Stücks auch in Muth- massungen starck, und zur Verwunderung der Leute glücklich seyn.
§. 15. Anderes Stück der Kunst zu muthmassen.
Wenn man nach der gemeinen Einsicht zwar etwas voraus siehet, aber nicht determinirt genug; so bestehet, nach den (§. 13.) vorhin angegebenen Grundregeln, die Kunst zu muthmassen wiederum darinne, daß man 1. sich entweder nach mehreren allgemeinen Wahrheiten umsehe, oder 2. daß man eine neue Betrachtung der Sache nach ihrer inner- lichen Beschaffenheit, nochmahls vornehme. Man untersuche die feinsten Proben eines scharfsinnigen Verstandes, die uns etwa von grossen Männern bekannt sind, welche Dinge voraus gesehen ha- ben, so wird man finden, daß sie darum in ihren Muthmassungen glücklich gewesen sind: Weil sie entweder gewisse, sonst nicht bekannt gewesene Ma- rimen gewust haben, wornach die Menschen in ih-
ren
Zwoͤlfftes Capitel,
ſtehen werde. Jn der gemeinen Erkentniß hat man nehmlich davon zu wenige Exempel, und keine Theorie gar nicht, daraus man von der Sache urthei- len koͤnte. Wenn ein Erdbeben entſtehet, ſo weiß noch kein Menſch nicht, was er von dem Fortgange vermuthen ſoll, woraus denn mehr Furcht und Schrecken zu entſtehen pfleget, als aus dem groͤſten vorhandenen Uebel. Wer alſo bey ſolchen Dingen beſondere Gelegenheit hat, Erfahrungen zu ſammlen, oder eine Theorie zu erſinnen, der wird in Anſehung eines ſolchen Stuͤcks auch in Muth- maſſungen ſtarck, und zur Verwunderung der Leute gluͤcklich ſeyn.
§. 15. Anderes Stuͤck der Kunſt zu muthmaſſen.
Wenn man nach der gemeinen Einſicht zwar etwas voraus ſiehet, aber nicht determinirt genug; ſo beſtehet, nach den (§. 13.) vorhin angegebenen Grundregeln, die Kunſt zu muthmaſſen wiederum darinne, daß man 1. ſich entweder nach mehreren allgemeinen Wahrheiten umſehe, oder 2. daß man eine neue Betrachtung der Sache nach ihrer inner- lichen Beſchaffenheit, nochmahls vornehme. Man unterſuche die feinſten Proben eines ſcharfſinnigen Verſtandes, die uns etwa von groſſen Maͤnnern bekannt ſind, welche Dinge voraus geſehen ha- ben, ſo wird man finden, daß ſie darum in ihren Muthmaſſungen gluͤcklich geweſen ſind: Weil ſie entweder gewiſſe, ſonſt nicht bekannt geweſene Ma- rimen gewuſt haben, wornach die Menſchen in ih-
ren
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0428"n="392"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Zwoͤlfftes Capitel,</hi></fw><lb/>ſtehen werde. Jn der gemeinen Erkentniß hat<lb/>
man nehmlich davon zu wenige Exempel, und keine<lb/>
Theorie gar nicht, daraus man von der Sache urthei-<lb/>
len koͤnte. Wenn ein Erdbeben entſtehet, ſo weiß<lb/>
noch kein Menſch nicht, was er von dem Fortgange<lb/>
vermuthen ſoll, woraus denn mehr Furcht und<lb/>
Schrecken zu entſtehen pfleget, als aus dem groͤſten<lb/>
vorhandenen Uebel. Wer alſo bey ſolchen Dingen<lb/>
beſondere Gelegenheit hat, <hirendition="#fr">Erfahrungen</hi> zu<lb/>ſammlen, oder eine Theorie zu erſinnen, der wird<lb/>
in Anſehung eines ſolchen Stuͤcks auch in <hirendition="#fr">Muth-<lb/>
maſſungen</hi>ſtarck, und zur Verwunderung der<lb/>
Leute gluͤcklich ſeyn.</p></div><lb/><divn="2"><head>§. 15.<lb/>
Anderes Stuͤck der Kunſt zu muthmaſſen.</head><lb/><p>Wenn man nach der gemeinen Einſicht zwar<lb/>
etwas voraus ſiehet, aber nicht determinirt genug;<lb/>ſo beſtehet, nach den (§. 13.) vorhin angegebenen<lb/>
Grundregeln, die Kunſt zu muthmaſſen wiederum<lb/>
darinne, daß man 1. ſich entweder nach mehreren<lb/>
allgemeinen Wahrheiten umſehe, oder 2. daß man<lb/>
eine neue Betrachtung der Sache nach ihrer inner-<lb/>
lichen Beſchaffenheit, nochmahls vornehme. Man<lb/>
unterſuche die feinſten Proben eines ſcharfſinnigen<lb/>
Verſtandes, die uns etwa von groſſen Maͤnnern<lb/>
bekannt ſind, welche Dinge <hirendition="#fr">voraus geſehen</hi> ha-<lb/>
ben, ſo wird man finden, daß ſie darum in ihren<lb/>
Muthmaſſungen gluͤcklich geweſen ſind: Weil ſie<lb/>
entweder gewiſſe, ſonſt nicht bekannt geweſene Ma-<lb/>
rimen gewuſt haben, wornach die Menſchen in ih-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ren</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[392/0428]
Zwoͤlfftes Capitel,
ſtehen werde. Jn der gemeinen Erkentniß hat
man nehmlich davon zu wenige Exempel, und keine
Theorie gar nicht, daraus man von der Sache urthei-
len koͤnte. Wenn ein Erdbeben entſtehet, ſo weiß
noch kein Menſch nicht, was er von dem Fortgange
vermuthen ſoll, woraus denn mehr Furcht und
Schrecken zu entſtehen pfleget, als aus dem groͤſten
vorhandenen Uebel. Wer alſo bey ſolchen Dingen
beſondere Gelegenheit hat, Erfahrungen zu
ſammlen, oder eine Theorie zu erſinnen, der wird
in Anſehung eines ſolchen Stuͤcks auch in Muth-
maſſungen ſtarck, und zur Verwunderung der
Leute gluͤcklich ſeyn.
§. 15.
Anderes Stuͤck der Kunſt zu muthmaſſen.
Wenn man nach der gemeinen Einſicht zwar
etwas voraus ſiehet, aber nicht determinirt genug;
ſo beſtehet, nach den (§. 13.) vorhin angegebenen
Grundregeln, die Kunſt zu muthmaſſen wiederum
darinne, daß man 1. ſich entweder nach mehreren
allgemeinen Wahrheiten umſehe, oder 2. daß man
eine neue Betrachtung der Sache nach ihrer inner-
lichen Beſchaffenheit, nochmahls vornehme. Man
unterſuche die feinſten Proben eines ſcharfſinnigen
Verſtandes, die uns etwa von groſſen Maͤnnern
bekannt ſind, welche Dinge voraus geſehen ha-
ben, ſo wird man finden, daß ſie darum in ihren
Muthmaſſungen gluͤcklich geweſen ſind: Weil ſie
entweder gewiſſe, ſonſt nicht bekannt geweſene Ma-
rimen gewuſt haben, wornach die Menſchen in ih-
ren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/428>, abgerufen am 19.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.