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Clauren, Heinrich: Liebe und Irrthum. Nordhausen, 1827.

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an! Das Beste war, noch allenfalls einen Tag
zu warten, denn das war er wohl dem Grafen
schuldig, und dann im Fluge nach der Heim --
halt, war da nicht im andern Flügel des Schlosses
im Eckzimmer Licht? Eine Gestalt wurde sichtbar,
dicht am Fenster. Vielleicht die gelbe Letty.
Aber behüte, die konnte es nicht sein, die war
zu plump gegen diese frische, leichte Gestalt.

Blauenstein tappte nach seinem Koffer; er
wühlte darin nach dem Perspective, mit dem er
meilenweit einen Menschen erkannte, und legte
den gefundenen Schatz am Fenster an. Es war
Tina. Was in aller Welt machte das Mädchen
noch in dieser Stunde? Vor ihr auf dem Tische
lagen eine Menge zusammengelegter Papiere, ver¬
muthlich Briefe; ihr Auge schien trübe, als hätte
sie geweint, der wogende Busen hob das weiße
Nachtkorsettchen schnell und schneller empor, daß
alle rothen Schleifen daran wie Espenlaub zit¬
terten. Hier mußte etwas vorgefallen sein, das
war klar. Jetzt verschwand das Licht, Alles war
dunkel, die Nacht breitete ihre Rabenfittige über
den Park und den See. Was mag ihr fehlen?
dachte Blauenstein, und schloß das Fenster mit
einem Frösteln, hat sie einen Kummer, hat sie
etwas zu bereuen? Man urtheilt oft so unüber¬

an! Das Beſte war, noch allenfalls einen Tag
zu warten, denn das war er wohl dem Grafen
ſchuldig, und dann im Fluge nach der Heim —
halt, war da nicht im andern Fluͤgel des Schloſſes
im Eckzimmer Licht? Eine Geſtalt wurde ſichtbar,
dicht am Fenſter. Vielleicht die gelbe Letty.
Aber behuͤte, die konnte es nicht ſein, die war
zu plump gegen dieſe friſche, leichte Geſtalt.

Blauenſtein tappte nach ſeinem Koffer; er
wuͤhlte darin nach dem Perſpective, mit dem er
meilenweit einen Menſchen erkannte, und legte
den gefundenen Schatz am Fenſter an. Es war
Tina. Was in aller Welt machte das Maͤdchen
noch in dieſer Stunde? Vor ihr auf dem Tiſche
lagen eine Menge zuſammengelegter Papiere, ver¬
muthlich Briefe; ihr Auge ſchien truͤbe, als haͤtte
ſie geweint, der wogende Buſen hob das weiße
Nachtkorſettchen ſchnell und ſchneller empor, daß
alle rothen Schleifen daran wie Espenlaub zit¬
terten. Hier mußte etwas vorgefallen ſein, das
war klar. Jetzt verſchwand das Licht, Alles war
dunkel, die Nacht breitete ihre Rabenfittige uͤber
den Park und den See. Was mag ihr fehlen?
dachte Blauenſtein, und ſchloß das Fenſter mit
einem Froͤſteln, hat ſie einen Kummer, hat ſie
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[32/0038] an! Das Beſte war, noch allenfalls einen Tag zu warten, denn das war er wohl dem Grafen ſchuldig, und dann im Fluge nach der Heim — halt, war da nicht im andern Fluͤgel des Schloſſes im Eckzimmer Licht? Eine Geſtalt wurde ſichtbar, dicht am Fenſter. Vielleicht die gelbe Letty. Aber behuͤte, die konnte es nicht ſein, die war zu plump gegen dieſe friſche, leichte Geſtalt. Blauenſtein tappte nach ſeinem Koffer; er wuͤhlte darin nach dem Perſpective, mit dem er meilenweit einen Menſchen erkannte, und legte den gefundenen Schatz am Fenſter an. Es war Tina. Was in aller Welt machte das Maͤdchen noch in dieſer Stunde? Vor ihr auf dem Tiſche lagen eine Menge zuſammengelegter Papiere, ver¬ muthlich Briefe; ihr Auge ſchien truͤbe, als haͤtte ſie geweint, der wogende Buſen hob das weiße Nachtkorſettchen ſchnell und ſchneller empor, daß alle rothen Schleifen daran wie Espenlaub zit¬ terten. Hier mußte etwas vorgefallen ſein, das war klar. Jetzt verſchwand das Licht, Alles war dunkel, die Nacht breitete ihre Rabenfittige uͤber den Park und den See. Was mag ihr fehlen? dachte Blauenſtein, und ſchloß das Fenſter mit einem Froͤſteln, hat ſie einen Kummer, hat ſie etwas zu bereuen? Man urtheilt oft ſo unuͤber¬

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Zitationshilfe: Clauren, Heinrich: Liebe und Irrthum. Nordhausen, 1827, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clauren_liebe_1827/38>, abgerufen am 21.11.2024.