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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Begriffen besteht, muß also so beschaffen seyn, daß sie nicht p1c_211.002
allein eine besonders angewandte Gesetzlichkeit und individuelle p1c_211.003
Zweckmäßigkeit, sondern die unbestimmbare Jdee eines p1c_211.004
gesetzlichen Seyns überhaupt ausdrückt. Jm ersten p1c_211.005
Falle ist sie ein Verstandeswerk. Jm andern Falle nur p1c_211.006
ist sie ein Werk der freyen Kunst. Die schöne Gedankenreihe p1c_211.007
muß also scheinbar zufällig entstanden seyn, nicht p1c_211.008
nach nothwendigen Gründen im deutlichen Bewußtseyn, sondern p1c_211.009
nach willkührlicher Jdeenassociation der leicht sich entwickelnden p1c_211.010
Vorstellkraft zusammenhängen, das Licht der p1c_211.011
herrschenden Hauptidee muß ohne Ordnung auf die einzelnen p1c_211.012
Theile des Gedankens vertheilt seyn. Daher die scheinbare p1c_211.013
Unordnung im Plane der Ode, der poetischen Erzählung p1c_211.014
u. s. w. So werden wir veranlaßt, nicht bloß die bestimmten p1c_211.015
Vorstellungen und Begriffe anzuschaun und zu begreifen, p1c_211.016
sondern dieses einzeln Bestimmte, als Symbol jedes anschaulich p1c_211.017
Realen
und Begreiflichen überhaupt anzusehn, p1c_211.018
welches von selbst sich den idealen Formen unterwirft. p1c_211.019
Die Begriffe und Vorstellungen müssen in Absicht p1c_211.020
auf den Verstand etwas Unendliches und Unbestimmtes, p1c_211.021
in Absicht auf die Sinne etwas nicht Daseyendes, p1c_211.022
sondern Werdendes, etwas nicht Wirkliches, p1c_211.023
sondern Mögliches bey sich führen. Sie müssen weder p1c_211.024
den Verstand noch die Sinne überwiegend beschäftigen, sondern p1c_211.025
das Streben nach sinnlichen Perceptionen oder äußern p1c_211.026
Anschauungen überhaupt, das sich zu Begriffen gestalten p1c_211.027
will. Dieses Streben heißt die Phantasie. Folglich p1c_211.028
muß die schöne Gedankenreihe die Thätigkeit der

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Begriffen besteht, muß also so beschaffen seyn, daß sie nicht p1c_211.002
allein eine besonders angewandte Gesetzlichkeit und individuelle p1c_211.003
Zweckmäßigkeit, sondern die unbestimmbare Jdee eines p1c_211.004
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nach nothwendigen Gründen im deutlichen Bewußtseyn, sondern p1c_211.009
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Unordnung im Plane der Ode, der poetischen Erzählung p1c_211.014
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welches von selbst sich den idealen Formen unterwirft. p1c_211.019
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auf den Verstand etwas Unendliches und Unbestimmtes, p1c_211.021
in Absicht auf die Sinne etwas nicht Daseyendes, p1c_211.022
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/269>, abgerufen am 20.05.2024.