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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Wiederschein des höhern Lebens hervor, realisirt auf eine p1c_006.002
Art, die nicht gelehrt werden kann, das Jdeale.

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Anmerk. 2. Da Poesie eine freye Kunst ist, p1c_006.004
das heißt sich über alle individuelle Zwecke des Lebens erhebt, p1c_006.005
die individuellen Zwecke aber leider das einzige sind, was p1c_006.006
die Menschen ernstlich zu betreiben pflegen, so begreift p1c_006.007
man, warum die Poesie auch zuweilen eine spielende p1c_006.008
Kunst genannt wird. Spiel im höhern Sinne des Worts p1c_006.009
ist jede unbedingte Thätigkeit. Wenn das junge Thier seine p1c_006.010
ersten Kräfte versucht, spielt es. Der Mensch spielt, wenn p1c_006.011
er sich zur Unterhaltung und Uebung an scheinbar willkührliche p1c_006.012
Regeln bindet. Der freye Künstler spielt, indem er p1c_006.013
das höchst Zufällige darstellt, und dabey das höchst Nothwendige p1c_006.014
findet.

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Anmerk. 3. Da die Poesie eine freye Kunst ist, p1c_006.016
das heißt, weder die individuelle Natur noch vorgeschriebene p1c_006.017
Muster nachahmt, sondern mit der Natur, gleich ihr schaffend, p1c_006.018
Hand in Hand geht, so nennt man sie auch zuweilen p1c_006.019
eine schöpferische Kunst. Die Jdee der Schöpfung ist p1c_006.020
die Jdee des freyen Hervorbringens alles Zufälligen, ohne p1c_006.021
Nachahmung von etwas voraus Existirendem, so daß der p1c_006.022
Schöpfer seine innere ideale Natur in der äußern Schöpfung p1c_006.023
unwillkührlich ausspricht.

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Anmerk. 4. Da die Poesie eine freye Kunst ist, p1c_006.025
das heißt, nicht gelehrt werden kann, so nennt man sie

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Wiederschein des höhern Lebens hervor, realisirt auf eine p1c_006.002
Art, die nicht gelehrt werden kann, das Jdeale.

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Regeln bindet. Der freye Künstler spielt, indem er p1c_006.013
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/64>, abgerufen am 10.05.2024.