p1c_009.001 Anmerk. 6. Da die Poesie eine freye Kunst ist, p1c_009.002 d. h. in der Natur, als einem Aggregat von individuellen p1c_009.003 Gegenständen keine hinreichenden Muster findet, so ist es p1c_009.004 falsch, wenn Aristoteles das Wesen der Poesie in die p1c_009.005 Nachahmung setzt. Er sagt dies zwar nur von der p1c_009.006 epischen und tragischen Poesie. Aber auch in dieser p1c_009.007 ist das eigentlich Poetische nicht die Darstellung der p1c_009.008 Wirklichkeit. Die Sache wird nicht besser, wenn man mit p1c_009.009 Batteux Nachahmung der schönen Natur als Princip p1c_009.010 annimmt. Dann fragt sich wieder, was in der Natur selbst p1c_009.011 poetisch sey? Historisch ist es wahr, daß alle Kunstversuche p1c_009.012 mit Nachahmung begannen, denn der Mensch gelangt nur p1c_009.013 durch Herumirren an das Ziel, in der Kunst, wie im Erringen p1c_009.014 der Wahrheit. Aber am Ziele selbst kann man den p1c_009.015 Weg nicht mehr für das Wesentliche ansehn. Der allertraurigste p1c_009.016 Begriff der Poesie, der für die Menschheit höchst p1c_009.017 entehrend ist, findet sich bey den Leuten, welche die Poesiep1c_009.018 für eine Kunst zu erdichten und durch Lügen zu unterhalten p1c_009.019 ansehn. Dieser Begriff scheint selbst unserm Sprachgebrauche p1c_009.020 anzuhängen. Aber man muß sich erinnern, daß p1c_009.021 Dichten ein Frequentativum von Denken ist, und ein p1c_009.022 geistiges Streben, mithin das eigentlich Charakteristische p1c_009.023 der Phantasie ausdrückt. Jndem die Poesiep1c_009.024 das Zeitliche zum Symbol des Ewigen und eigentlich p1c_009.025 Realen erhebt, und die sichtbare Welt in eine große p1c_009.026 Allegorie des Unsichtbaren umwandelt, giebt sie uns eine p1c_009.027 Vorahnung der Seligkeit. Es ist ihre höchste Bestimmung, p1c_009.028 das religiöse Gefühl, (das heilige Feuer, das die
p1c_009.001 Anmerk. 6. Da die Poesie eine freye Kunst ist, p1c_009.002 d. h. in der Natur, als einem Aggregat von individuellen p1c_009.003 Gegenständen keine hinreichenden Muster findet, so ist es p1c_009.004 falsch, wenn Aristoteles das Wesen der Poesie in die p1c_009.005 Nachahmung setzt. Er sagt dies zwar nur von der p1c_009.006 epischen und tragischen Poesie. Aber auch in dieser p1c_009.007 ist das eigentlich Poetische nicht die Darstellung der p1c_009.008 Wirklichkeit. Die Sache wird nicht besser, wenn man mit p1c_009.009 Batteux Nachahmung der schönen Natur als Princip p1c_009.010 annimmt. Dann fragt sich wieder, was in der Natur selbst p1c_009.011 poetisch sey? Historisch ist es wahr, daß alle Kunstversuche p1c_009.012 mit Nachahmung begannen, denn der Mensch gelangt nur p1c_009.013 durch Herumirren an das Ziel, in der Kunst, wie im Erringen p1c_009.014 der Wahrheit. Aber am Ziele selbst kann man den p1c_009.015 Weg nicht mehr für das Wesentliche ansehn. Der allertraurigste p1c_009.016 Begriff der Poesie, der für die Menschheit höchst p1c_009.017 entehrend ist, findet sich bey den Leuten, welche die Poesiep1c_009.018 für eine Kunst zu erdichten und durch Lügen zu unterhalten p1c_009.019 ansehn. Dieser Begriff scheint selbst unserm Sprachgebrauche p1c_009.020 anzuhängen. Aber man muß sich erinnern, daß p1c_009.021 Dichten ein Frequentativum von Denken ist, und ein p1c_009.022 geistiges Streben, mithin das eigentlich Charakteristische p1c_009.023 der Phantasie ausdrückt. Jndem die Poesiep1c_009.024 das Zeitliche zum Symbol des Ewigen und eigentlich p1c_009.025 Realen erhebt, und die sichtbare Welt in eine große p1c_009.026 Allegorie des Unsichtbaren umwandelt, giebt sie uns eine p1c_009.027 Vorahnung der Seligkeit. Es ist ihre höchste Bestimmung, p1c_009.028 das religiöse Gefühl, (das heilige Feuer, das die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0067"n="9"/><p><lbn="p1c_009.001"/><hirendition="#g">Anmerk.</hi> 6. Da die Poesie eine <hirendition="#g">freye</hi> Kunst ist, <lbn="p1c_009.002"/>
d. h. in der Natur, als einem Aggregat von individuellen <lbn="p1c_009.003"/>
Gegenständen keine hinreichenden Muster findet, so ist es <lbn="p1c_009.004"/>
falsch, wenn <hirendition="#g">Aristoteles</hi> das Wesen der Poesie in die <lbn="p1c_009.005"/><hirendition="#g">Nachahmung</hi> setzt. Er sagt dies zwar nur von der <lbn="p1c_009.006"/><hirendition="#g">epischen</hi> und <hirendition="#g">tragischen</hi> Poesie. Aber auch in dieser <lbn="p1c_009.007"/>
ist das eigentlich <hirendition="#g">Poetische</hi> nicht die Darstellung der <lbn="p1c_009.008"/>
Wirklichkeit. Die Sache wird nicht besser, wenn man mit <lbn="p1c_009.009"/><hirendition="#g">Batteux</hi> Nachahmung der <hirendition="#g">schönen</hi> Natur als Princip <lbn="p1c_009.010"/>
annimmt. Dann fragt sich wieder, was in der Natur selbst <lbn="p1c_009.011"/>
poetisch sey? Historisch ist es wahr, daß alle Kunstversuche <lbn="p1c_009.012"/>
mit Nachahmung begannen, denn der Mensch gelangt nur <lbn="p1c_009.013"/>
durch Herumirren an das Ziel, in der Kunst, wie im Erringen <lbn="p1c_009.014"/>
der Wahrheit. Aber am Ziele selbst kann man den <lbn="p1c_009.015"/>
Weg nicht mehr für das Wesentliche ansehn. Der allertraurigste <lbn="p1c_009.016"/>
Begriff der <hirendition="#g">Poesie,</hi> der für die Menschheit höchst <lbn="p1c_009.017"/>
entehrend ist, findet sich bey den Leuten, welche die <hirendition="#g">Poesie</hi><lbn="p1c_009.018"/>
für eine Kunst zu <hirendition="#g">erdichten</hi> und durch Lügen zu unterhalten <lbn="p1c_009.019"/>
ansehn. Dieser Begriff scheint selbst unserm Sprachgebrauche <lbn="p1c_009.020"/>
anzuhängen. Aber man muß sich erinnern, daß <lbn="p1c_009.021"/><hirendition="#g">Dichten</hi> ein Frequentativum von <hirendition="#g">Denken</hi> ist, und ein <lbn="p1c_009.022"/><hirendition="#g">geistiges Streben,</hi> mithin das eigentlich Charakteristische <lbn="p1c_009.023"/>
der <hirendition="#g">Phantasie</hi> ausdrückt. Jndem die <hirendition="#g">Poesie</hi><lbn="p1c_009.024"/>
das <hirendition="#g">Zeitliche</hi> zum <hirendition="#g">Symbol</hi> des <hirendition="#g">Ewigen</hi> und eigentlich <lbn="p1c_009.025"/><hirendition="#g">Realen</hi> erhebt, und die sichtbare Welt in eine große <lbn="p1c_009.026"/>
Allegorie des Unsichtbaren umwandelt, giebt sie uns eine <lbn="p1c_009.027"/>
Vorahnung der Seligkeit. Es ist ihre höchste Bestimmung, <lbn="p1c_009.028"/>
das <hirendition="#g">religiöse Gefühl,</hi> (das heilige Feuer, das die
</p></div></div></body></text></TEI>
[9/0067]
p1c_009.001
Anmerk. 6. Da die Poesie eine freye Kunst ist, p1c_009.002
d. h. in der Natur, als einem Aggregat von individuellen p1c_009.003
Gegenständen keine hinreichenden Muster findet, so ist es p1c_009.004
falsch, wenn Aristoteles das Wesen der Poesie in die p1c_009.005
Nachahmung setzt. Er sagt dies zwar nur von der p1c_009.006
epischen und tragischen Poesie. Aber auch in dieser p1c_009.007
ist das eigentlich Poetische nicht die Darstellung der p1c_009.008
Wirklichkeit. Die Sache wird nicht besser, wenn man mit p1c_009.009
Batteux Nachahmung der schönen Natur als Princip p1c_009.010
annimmt. Dann fragt sich wieder, was in der Natur selbst p1c_009.011
poetisch sey? Historisch ist es wahr, daß alle Kunstversuche p1c_009.012
mit Nachahmung begannen, denn der Mensch gelangt nur p1c_009.013
durch Herumirren an das Ziel, in der Kunst, wie im Erringen p1c_009.014
der Wahrheit. Aber am Ziele selbst kann man den p1c_009.015
Weg nicht mehr für das Wesentliche ansehn. Der allertraurigste p1c_009.016
Begriff der Poesie, der für die Menschheit höchst p1c_009.017
entehrend ist, findet sich bey den Leuten, welche die Poesie p1c_009.018
für eine Kunst zu erdichten und durch Lügen zu unterhalten p1c_009.019
ansehn. Dieser Begriff scheint selbst unserm Sprachgebrauche p1c_009.020
anzuhängen. Aber man muß sich erinnern, daß p1c_009.021
Dichten ein Frequentativum von Denken ist, und ein p1c_009.022
geistiges Streben, mithin das eigentlich Charakteristische p1c_009.023
der Phantasie ausdrückt. Jndem die Poesie p1c_009.024
das Zeitliche zum Symbol des Ewigen und eigentlich p1c_009.025
Realen erhebt, und die sichtbare Welt in eine große p1c_009.026
Allegorie des Unsichtbaren umwandelt, giebt sie uns eine p1c_009.027
Vorahnung der Seligkeit. Es ist ihre höchste Bestimmung, p1c_009.028
das religiöse Gefühl, (das heilige Feuer, das die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/67>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.