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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Anmerk. 6. Da die Poesie eine freye Kunst ist, p1c_009.002
d. h. in der Natur, als einem Aggregat von individuellen p1c_009.003
Gegenständen keine hinreichenden Muster findet, so ist es p1c_009.004
falsch, wenn Aristoteles das Wesen der Poesie in die p1c_009.005
Nachahmung setzt. Er sagt dies zwar nur von der p1c_009.006
epischen und tragischen Poesie. Aber auch in dieser p1c_009.007
ist das eigentlich Poetische nicht die Darstellung der p1c_009.008
Wirklichkeit. Die Sache wird nicht besser, wenn man mit p1c_009.009
Batteux Nachahmung der schönen Natur als Princip p1c_009.010
annimmt. Dann fragt sich wieder, was in der Natur selbst p1c_009.011
poetisch sey? Historisch ist es wahr, daß alle Kunstversuche p1c_009.012
mit Nachahmung begannen, denn der Mensch gelangt nur p1c_009.013
durch Herumirren an das Ziel, in der Kunst, wie im Erringen p1c_009.014
der Wahrheit. Aber am Ziele selbst kann man den p1c_009.015
Weg nicht mehr für das Wesentliche ansehn. Der allertraurigste p1c_009.016
Begriff der Poesie, der für die Menschheit höchst p1c_009.017
entehrend ist, findet sich bey den Leuten, welche die Poesie p1c_009.018
für eine Kunst zu erdichten und durch Lügen zu unterhalten p1c_009.019
ansehn. Dieser Begriff scheint selbst unserm Sprachgebrauche p1c_009.020
anzuhängen. Aber man muß sich erinnern, daß p1c_009.021
Dichten ein Frequentativum von Denken ist, und ein p1c_009.022
geistiges Streben, mithin das eigentlich Charakteristische p1c_009.023
der Phantasie ausdrückt. Jndem die Poesie p1c_009.024
das Zeitliche zum Symbol des Ewigen und eigentlich p1c_009.025
Realen erhebt, und die sichtbare Welt in eine große p1c_009.026
Allegorie des Unsichtbaren umwandelt, giebt sie uns eine p1c_009.027
Vorahnung der Seligkeit. Es ist ihre höchste Bestimmung, p1c_009.028
das religiöse Gefühl, (das heilige Feuer, das die

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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/67>, abgerufen am 09.05.2024.