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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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kritisirt, ob seine Helden auch beredt geschildert seyn. Die p1c_019.002
darüber gefällten Urtheile sind aber nicht eigentlich ästhetisch, p1c_019.003
eben so wenig, wie die Regeln, die man dem dramatischen p1c_019.004
Dichter in Absicht auf die Vollkommenheit seiner Handlung p1c_019.005
giebt. Dieser Umstand trägt viel zur Verwechslung der p1c_019.006
Begriffe bey.

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§. 4.

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Poetik, welche hier vorgetragen wird, ist keine p1c_019.009
Wissenschaft, keine Kunst im objektiven Sinne, p1c_019.010
sondern eine Theorie.

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Anmerk. 1. Die Poetik wird als ein Theil der p1c_019.012
Aesthetik angesehen und zur Philosophie gerechnet. Da p1c_019.013
nun in der Philosophie zu unsern Zeiten völlige Anarchie p1c_019.014
und Begriffsverwirrung herrscht, und der Verf. sich zu p1c_019.015
keiner der bisher vorhandenen philosophischen Sekten bekennt, p1c_019.016
so sieht er sich genöthigt, um der Poetik ihren Platz anzuweisen, p1c_019.017
sein eignes System in wenigen Worten anzudeuten. p1c_019.018
Der Mensch sammelt durch die Sinne Vorstellungen und p1c_019.019
bewahrt sie im Gedächtnisse. Er bringt sie unter gewisse p1c_019.020
Rubriken, und erkennt an diesen Rubriken die Gegenstände p1c_019.021
wieder. Der Jnbegriff einer Menge von Vorstellungen p1c_019.022
unter eine Rubrik gebracht heißt Kunde, z. B. Münzkunde, p1c_019.023
Pflanzenkunde, Sternkunde (d. h. Astrognosie) u. p1c_019.024
s. w. Mit Recht braucht man auch den Ausdruck Geschichte, p1c_019.025
z. B. Naturgeschichte. Dies ist der erste Grad

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kritisirt, ob seine Helden auch beredt geschildert seyn. Die p1c_019.002
darüber gefällten Urtheile sind aber nicht eigentlich ästhetisch, p1c_019.003
eben so wenig, wie die Regeln, die man dem dramatischen p1c_019.004
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Poetik, welche hier vorgetragen wird, ist keine p1c_019.009
Wissenschaft, keine Kunst im objektiven Sinne, p1c_019.010
sondern eine Theorie.

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Aesthetik angesehen und zur Philosophie gerechnet. Da p1c_019.013
nun in der Philosophie zu unsern Zeiten völlige Anarchie p1c_019.014
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Der Mensch sammelt durch die Sinne Vorstellungen und p1c_019.019
bewahrt sie im Gedächtnisse. Er bringt sie unter gewisse p1c_019.020
Rubriken, und erkennt an diesen Rubriken die Gegenstände p1c_019.021
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/77>, abgerufen am 10.05.2024.