Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_582.001 p2c_582.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0106" n="582"/><lb n="p2c_582.001"/> d. h. der poetische Gedanke und die Musik waren in nothwendiger <lb n="p2c_582.002"/> Verbindung, in unzertrennlicher Wechselwirkung. <lb n="p2c_582.003"/> Nach und nach bildeten sich diese Künste mehr aus. Jede <lb n="p2c_582.004"/> konnte hinlänglich für sich unterhalten. Sie wurden selbstständig, <lb n="p2c_582.005"/> sie trennten sich von einander. Die poetischen <lb n="p2c_582.006"/> Werke wurden zwar ihrer Form nach in Liedern, Hymnen, <lb n="p2c_582.007"/> Chören, auf die mögliche Begleitung der Musik eingerichtet. <lb n="p2c_582.008"/> Allein sie thaten doch ihren Effekt auch ohne die Musik, und <lb n="p2c_582.009"/> wurden als für sich bestehende Werke beurtheilt. Eben so <lb n="p2c_582.010"/> ward die Musik, ohne Rücksicht auf einen möglichen Text, <lb n="p2c_582.011"/> den sie begleitet, als Kunstwerk für sich angesehn. ─ Es <lb n="p2c_582.012"/> ist also bey der großen Cultur dieser beyden Künste eine <lb n="p2c_582.013"/> <hi rendition="#g">Aufgabe</hi> entstanden: Wie können sie beyde als gebildete <lb n="p2c_582.014"/> selbstthätige Hauptkünste wieder mit einander eng vereinigt <lb n="p2c_582.015"/> werden? Diese Aufgabe ist um so interessanter, je gewisser <lb n="p2c_582.016"/> es ist, daß diese enge Vereinigung und Harmonie zweyer so <lb n="p2c_582.017"/> vervollkommten Künste unerhörte Wirkung hervorbringen <lb n="p2c_582.018"/> müßte. Diese Aufgabe sollte nun <hi rendition="#g">billig</hi> das <hi rendition="#g">musikalische <lb n="p2c_582.019"/> Gedicht,</hi> die <hi rendition="#g">Kantate</hi> lösen, wiewohl bis jetzt <lb n="p2c_582.020"/> es noch nicht geschehn ist. Denn die Jdee des <hi rendition="#g">musicalischen <lb n="p2c_582.021"/> Gedichts</hi> ist noch nicht ganz rein aufgefaßt <lb n="p2c_582.022"/> worden. Es ist bis jetzt noch mehr der Nahme als die <lb n="p2c_582.023"/> Sache vorhanden. Nach Crescimbeni sind die <hi rendition="#g">Kantaten</hi> <lb n="p2c_582.024"/> eine Erfindung der <hi rendition="#g">Jtaliener</hi> aus dem siebzehnten Jahrhundert. <lb n="p2c_582.025"/> Allein diese Nazion hatte zu viel Neigung für die <lb n="p2c_582.026"/> Musik, als daß sie nicht der Musik dabey das Uebergewicht <lb n="p2c_582.027"/> über die Poesie hätte einräumen sollen, und so konnte diese <lb n="p2c_582.028"/> Dichtungsart nicht zur Vollkommenheit kommen. Daher </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [582/0106]
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d. h. der poetische Gedanke und die Musik waren in nothwendiger p2c_582.002
Verbindung, in unzertrennlicher Wechselwirkung. p2c_582.003
Nach und nach bildeten sich diese Künste mehr aus. Jede p2c_582.004
konnte hinlänglich für sich unterhalten. Sie wurden selbstständig, p2c_582.005
sie trennten sich von einander. Die poetischen p2c_582.006
Werke wurden zwar ihrer Form nach in Liedern, Hymnen, p2c_582.007
Chören, auf die mögliche Begleitung der Musik eingerichtet. p2c_582.008
Allein sie thaten doch ihren Effekt auch ohne die Musik, und p2c_582.009
wurden als für sich bestehende Werke beurtheilt. Eben so p2c_582.010
ward die Musik, ohne Rücksicht auf einen möglichen Text, p2c_582.011
den sie begleitet, als Kunstwerk für sich angesehn. ─ Es p2c_582.012
ist also bey der großen Cultur dieser beyden Künste eine p2c_582.013
Aufgabe entstanden: Wie können sie beyde als gebildete p2c_582.014
selbstthätige Hauptkünste wieder mit einander eng vereinigt p2c_582.015
werden? Diese Aufgabe ist um so interessanter, je gewisser p2c_582.016
es ist, daß diese enge Vereinigung und Harmonie zweyer so p2c_582.017
vervollkommten Künste unerhörte Wirkung hervorbringen p2c_582.018
müßte. Diese Aufgabe sollte nun billig das musikalische p2c_582.019
Gedicht, die Kantate lösen, wiewohl bis jetzt p2c_582.020
es noch nicht geschehn ist. Denn die Jdee des musicalischen p2c_582.021
Gedichts ist noch nicht ganz rein aufgefaßt p2c_582.022
worden. Es ist bis jetzt noch mehr der Nahme als die p2c_582.023
Sache vorhanden. Nach Crescimbeni sind die Kantaten p2c_582.024
eine Erfindung der Jtaliener aus dem siebzehnten Jahrhundert. p2c_582.025
Allein diese Nazion hatte zu viel Neigung für die p2c_582.026
Musik, als daß sie nicht der Musik dabey das Uebergewicht p2c_582.027
über die Poesie hätte einräumen sollen, und so konnte diese p2c_582.028
Dichtungsart nicht zur Vollkommenheit kommen. Daher
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