Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_726.001 p2c_726.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0250" n="726"/><lb n="p2c_726.001"/> beziehn. Jn eine ganz verkettete Gedankenreihe darf aber <lb n="p2c_726.002"/> die gnomische Poesie nicht übergehn, wenn sie ihr Wesen behalten <lb n="p2c_726.003"/> will. Denn sie steht zwischen dem eigentlichen Lehrgedicht <lb n="p2c_726.004"/> und dem Epigramm in der Mitte. Als moralisches <lb n="p2c_726.005"/> Epigramm muß jede Sentenz ein kleines gediegenes für sich <lb n="p2c_726.006"/> bestehendes Ganzes bilden. Der <hi rendition="#g">ästhetische</hi> Jnhalt, <lb n="p2c_726.007"/> oder die herrschende Empfindung ist bey längern Sammlungen <lb n="p2c_726.008"/> dieser Sprüche das <hi rendition="#g">Edle.</hi> Es muß eine hohe, und <lb n="p2c_726.009"/> zugleich schöne Stimmung durch diese Lehren in der Seele <lb n="p2c_726.010"/> erweckt werden. Jn diesem Charakter sinden sich einige <lb n="p2c_726.011"/> herrliche gnomische Gedichte bey Göthe. ─ Die <hi rendition="#g">Sprüchwörter</hi> <lb n="p2c_726.012"/> Salomonis erwecken im Ganzen genommen die <lb n="p2c_726.013"/> Stimmung des Großen und Starken. Der <hi rendition="#g">Styl</hi> der <lb n="p2c_726.014"/> gnomischen Poesie verlangt epigrammatische Präcision und <lb n="p2c_726.015"/> Gediegenheit. Auch ist er keineswegs durch seinen Gegenstand <lb n="p2c_726.016"/> von der Verbindlichkeit frey, die Phantasie zu unterhalten. <lb n="p2c_726.017"/> Theognis ist allerdings zu trocken. <hi rendition="#aq">Isocrates ad <lb n="p2c_726.018"/> Nicoclem</hi> klagt darüber, daß die Griechische Jugend den <lb n="p2c_726.019"/> Theognis nicht liebe. Doch kann man es der griechischen <lb n="p2c_726.020"/> Jugend nicht verdenken. Theognis kann nicht mit der Natur <lb n="p2c_726.021"/> der Gnomen entschuldigt werden, wie Harles in seiner <lb n="p2c_726.022"/> <hi rendition="#aq">historia linguae graecae</hi> will. Denn Simonides hat <lb n="p2c_726.023"/> auch im Fache der gnomischen Poesie gearbeitet, und seine <lb n="p2c_726.024"/> Sprache ist immer poetisch, bey aller Simplieität, lebhaft, <lb n="p2c_726.025"/> anschaulich. Aber seine Gedanken haben auch eine gewisse <lb n="p2c_726.026"/> Hoheit, welche dem Theognis abgeht. Zum <hi rendition="#g">Metrum</hi> <lb n="p2c_726.027"/> haben die gnomischen Dichter gewöhnlich <hi rendition="#g">elegische</hi> Distichen, <lb n="p2c_726.028"/> weil sie einen Perioden leicht einschließen und ein </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [726/0250]
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beziehn. Jn eine ganz verkettete Gedankenreihe darf aber p2c_726.002
die gnomische Poesie nicht übergehn, wenn sie ihr Wesen behalten p2c_726.003
will. Denn sie steht zwischen dem eigentlichen Lehrgedicht p2c_726.004
und dem Epigramm in der Mitte. Als moralisches p2c_726.005
Epigramm muß jede Sentenz ein kleines gediegenes für sich p2c_726.006
bestehendes Ganzes bilden. Der ästhetische Jnhalt, p2c_726.007
oder die herrschende Empfindung ist bey längern Sammlungen p2c_726.008
dieser Sprüche das Edle. Es muß eine hohe, und p2c_726.009
zugleich schöne Stimmung durch diese Lehren in der Seele p2c_726.010
erweckt werden. Jn diesem Charakter sinden sich einige p2c_726.011
herrliche gnomische Gedichte bey Göthe. ─ Die Sprüchwörter p2c_726.012
Salomonis erwecken im Ganzen genommen die p2c_726.013
Stimmung des Großen und Starken. Der Styl der p2c_726.014
gnomischen Poesie verlangt epigrammatische Präcision und p2c_726.015
Gediegenheit. Auch ist er keineswegs durch seinen Gegenstand p2c_726.016
von der Verbindlichkeit frey, die Phantasie zu unterhalten. p2c_726.017
Theognis ist allerdings zu trocken. Isocrates ad p2c_726.018
Nicoclem klagt darüber, daß die Griechische Jugend den p2c_726.019
Theognis nicht liebe. Doch kann man es der griechischen p2c_726.020
Jugend nicht verdenken. Theognis kann nicht mit der Natur p2c_726.021
der Gnomen entschuldigt werden, wie Harles in seiner p2c_726.022
historia linguae graecae will. Denn Simonides hat p2c_726.023
auch im Fache der gnomischen Poesie gearbeitet, und seine p2c_726.024
Sprache ist immer poetisch, bey aller Simplieität, lebhaft, p2c_726.025
anschaulich. Aber seine Gedanken haben auch eine gewisse p2c_726.026
Hoheit, welche dem Theognis abgeht. Zum Metrum p2c_726.027
haben die gnomischen Dichter gewöhnlich elegische Distichen, p2c_726.028
weil sie einen Perioden leicht einschließen und ein
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