Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_737.001 p2c_737.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0261" n="737"/><lb n="p2c_737.001"/> vorfanden. Das war ein Aggregat von zufälligen halb <lb n="p2c_737.002"/> wahren Begebenheiten, welche der Mensch nach und nach in <lb n="p2c_737.003"/> ein immer idealeres Licht gesetzt, und durch willkührliche <lb n="p2c_737.004"/> Erfindungen ausgeschmückt hatte. Eitelkeit der Großen und <lb n="p2c_737.005"/> Schmeicheley der Dichter, Hang zum Wunderbaren, Mysterien <lb n="p2c_737.006"/> und Philosophieen, wirkliche Geschichte, Enthusiasmus <lb n="p2c_737.007"/> für berühmte Helden, romantische Gegenden, astronomische, <lb n="p2c_737.008"/> wissenschaftliche Ansichten, alles trug dazu bey, eine <lb n="p2c_737.009"/> <hi rendition="#g">Mythologie</hi> zu bilden, welche viel <hi rendition="#g">individuelles <lb n="p2c_737.010"/> Leben,</hi> aber auch viel abgeschmacktes Mährchenhafte hatte, <lb n="p2c_737.011"/> das die Vernunft nicht interessiren konnte. ─ Unsere <lb n="p2c_737.012"/> <hi rendition="#g">neuern allegorischen</hi> Dichter, etwa den <hi rendition="#g">Dante</hi> ausgenommen, <lb n="p2c_737.013"/> haben in den entgegengesetzten Fehler verfallen <lb n="p2c_737.014"/> müssen. Sie haben keine Nazionalmythologie mehr. Sie <lb n="p2c_737.015"/> haben keine lebendigen individuellen Züge darzustellen. Jhre <lb n="p2c_737.016"/> <hi rendition="#g">Allegorien</hi> halten sich großentheils an die Philosophie <lb n="p2c_737.017"/> unmittelbar, und sind deswegen <hi rendition="#g">kalt.</hi> ─ Die Alten <lb n="p2c_737.018"/> waren für die <hi rendition="#g">Allegorie</hi> im Großen nicht philosophisch <lb n="p2c_737.019"/> und für die kleinere Allegorie nicht witzig genug. Wenn <lb n="p2c_737.020"/> gleich auf alle ihre Geräthschaften von den Künstlern allegorische <lb n="p2c_737.021"/> Anspielungen angebracht waren, so erhoben sich doch <lb n="p2c_737.022"/> ihre Dichter nie zur <hi rendition="#g">Jdee</hi> eines <hi rendition="#g">höhern allegorischen</hi> <lb n="p2c_737.023"/> Gedichts, und was man von Allegorien der Alten in den <lb n="p2c_737.024"/> übrigen Künsten noch aufgefunden hat, zeigt von wenig <lb n="p2c_737.025"/> ästhetischer Kraft. ─ Den <hi rendition="#g">Neuern</hi> wiederum fehlt das <lb n="p2c_737.026"/> <hi rendition="#g">mythologische</hi> Leben. ─ Es postulirt also die <hi rendition="#g">Theorie</hi> <lb n="p2c_737.027"/> eine <hi rendition="#g">allegorische</hi> Poesie, als die höchste Richtung <lb n="p2c_737.028"/> für die Dichtkunst überhaupt, welche noch nicht vorhanden </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [737/0261]
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vorfanden. Das war ein Aggregat von zufälligen halb p2c_737.002
wahren Begebenheiten, welche der Mensch nach und nach in p2c_737.003
ein immer idealeres Licht gesetzt, und durch willkührliche p2c_737.004
Erfindungen ausgeschmückt hatte. Eitelkeit der Großen und p2c_737.005
Schmeicheley der Dichter, Hang zum Wunderbaren, Mysterien p2c_737.006
und Philosophieen, wirkliche Geschichte, Enthusiasmus p2c_737.007
für berühmte Helden, romantische Gegenden, astronomische, p2c_737.008
wissenschaftliche Ansichten, alles trug dazu bey, eine p2c_737.009
Mythologie zu bilden, welche viel individuelles p2c_737.010
Leben, aber auch viel abgeschmacktes Mährchenhafte hatte, p2c_737.011
das die Vernunft nicht interessiren konnte. ─ Unsere p2c_737.012
neuern allegorischen Dichter, etwa den Dante ausgenommen, p2c_737.013
haben in den entgegengesetzten Fehler verfallen p2c_737.014
müssen. Sie haben keine Nazionalmythologie mehr. Sie p2c_737.015
haben keine lebendigen individuellen Züge darzustellen. Jhre p2c_737.016
Allegorien halten sich großentheils an die Philosophie p2c_737.017
unmittelbar, und sind deswegen kalt. ─ Die Alten p2c_737.018
waren für die Allegorie im Großen nicht philosophisch p2c_737.019
und für die kleinere Allegorie nicht witzig genug. Wenn p2c_737.020
gleich auf alle ihre Geräthschaften von den Künstlern allegorische p2c_737.021
Anspielungen angebracht waren, so erhoben sich doch p2c_737.022
ihre Dichter nie zur Jdee eines höhern allegorischen p2c_737.023
Gedichts, und was man von Allegorien der Alten in den p2c_737.024
übrigen Künsten noch aufgefunden hat, zeigt von wenig p2c_737.025
ästhetischer Kraft. ─ Den Neuern wiederum fehlt das p2c_737.026
mythologische Leben. ─ Es postulirt also die Theorie p2c_737.027
eine allegorische Poesie, als die höchste Richtung p2c_737.028
für die Dichtkunst überhaupt, welche noch nicht vorhanden
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