Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_738.001 p2c_738.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0262" n="738"/><lb n="p2c_738.001"/> zu seyn scheint. ─ Jhre Bestimmung wäre die abstracten <lb n="p2c_738.002"/> religiösen und philosophischen Jdeen der Neuern Zeit für die <lb n="p2c_738.003"/> Einbildungskraft in Sinnbildern zu individualisiren, und <lb n="p2c_738.004"/> lebendig zu machen. Vielleicht, weil man dies Bedürfniß <lb n="p2c_738.005"/> fühlte, hat man neuerlich hier und da von einer <hi rendition="#g">christlichen <lb n="p2c_738.006"/> Mythologie</hi> gesprochen. Der Ausdruck ist unbequem <lb n="p2c_738.007"/> und unbedachtsam gewählt, wenn man unter <hi rendition="#g">Mythus</hi> <lb n="p2c_738.008"/> sich fabelhafte Erfindung willkührlicher Bilder und <lb n="p2c_738.009"/> Geschichten denkt. Denkt man sich aber unter <hi rendition="#g">Mythologie</hi> <lb n="p2c_738.010"/> nur allegorische Jndividualisirung nothwendiger Wahrheiten, <lb n="p2c_738.011"/> so kann dies Wort auch bey <hi rendition="#g">christlichen</hi> Jdeen <lb n="p2c_738.012"/> von einem consequenten Christen geduldet werden. So ist <lb n="p2c_738.013"/> allerdings <hi rendition="#g">Dante</hi> Erfinder einer <hi rendition="#g">christlichen Mythologie,</hi> <lb n="p2c_738.014"/> d. h. die nothwendigen Wahrheiten von Himmel <lb n="p2c_738.015"/> und Hölle belebt er durch einzelne allegorische Bilder, die so <lb n="p2c_738.016"/> individuell sind, daß man das abstract wahre auch unterhaltend <lb n="p2c_738.017"/> für die Einbildungskraft finden muß. ─ Ein inniges <lb n="p2c_738.018"/> Grausen ergreift gewiß einen jeden, wenn er liest, <lb n="p2c_738.019"/> wie Dante im Schlangenthale die Lügner bestrafen läßt. <lb n="p2c_738.020"/> Der Mensch, der von einem glühenden Wurme gebissen <lb n="p2c_738.021"/> wird, der nicht schreyt, aber zu gähnen beginnt und in <lb n="p2c_738.022"/> dumpfer Erstarrung den Wurm betrachtet ─ ist ein so lebendiges <lb n="p2c_738.023"/> Bild des Entsetzens, als die griechische Mythologie <lb n="p2c_738.024"/> vielleicht keines aufzuweisen hat. Gleichwol wird niemand <lb n="p2c_738.025"/> dieses Bild zu den christlichen Glaubensartikeln zählen, wenn <lb n="p2c_738.026"/> es auch eine christliche Wahrheit allegorisch darstellt. ─ <lb n="p2c_738.027"/> Heutzutage zeigt sich eine große Disharmonie zwischen den <lb n="p2c_738.028"/> poetischen Geistern vom ersten Range in Ansehung der allegorischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [738/0262]
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zu seyn scheint. ─ Jhre Bestimmung wäre die abstracten p2c_738.002
religiösen und philosophischen Jdeen der Neuern Zeit für die p2c_738.003
Einbildungskraft in Sinnbildern zu individualisiren, und p2c_738.004
lebendig zu machen. Vielleicht, weil man dies Bedürfniß p2c_738.005
fühlte, hat man neuerlich hier und da von einer christlichen p2c_738.006
Mythologie gesprochen. Der Ausdruck ist unbequem p2c_738.007
und unbedachtsam gewählt, wenn man unter Mythus p2c_738.008
sich fabelhafte Erfindung willkührlicher Bilder und p2c_738.009
Geschichten denkt. Denkt man sich aber unter Mythologie p2c_738.010
nur allegorische Jndividualisirung nothwendiger Wahrheiten, p2c_738.011
so kann dies Wort auch bey christlichen Jdeen p2c_738.012
von einem consequenten Christen geduldet werden. So ist p2c_738.013
allerdings Dante Erfinder einer christlichen Mythologie, p2c_738.014
d. h. die nothwendigen Wahrheiten von Himmel p2c_738.015
und Hölle belebt er durch einzelne allegorische Bilder, die so p2c_738.016
individuell sind, daß man das abstract wahre auch unterhaltend p2c_738.017
für die Einbildungskraft finden muß. ─ Ein inniges p2c_738.018
Grausen ergreift gewiß einen jeden, wenn er liest, p2c_738.019
wie Dante im Schlangenthale die Lügner bestrafen läßt. p2c_738.020
Der Mensch, der von einem glühenden Wurme gebissen p2c_738.021
wird, der nicht schreyt, aber zu gähnen beginnt und in p2c_738.022
dumpfer Erstarrung den Wurm betrachtet ─ ist ein so lebendiges p2c_738.023
Bild des Entsetzens, als die griechische Mythologie p2c_738.024
vielleicht keines aufzuweisen hat. Gleichwol wird niemand p2c_738.025
dieses Bild zu den christlichen Glaubensartikeln zählen, wenn p2c_738.026
es auch eine christliche Wahrheit allegorisch darstellt. ─ p2c_738.027
Heutzutage zeigt sich eine große Disharmonie zwischen den p2c_738.028
poetischen Geistern vom ersten Range in Ansehung der allegorischen
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