Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_739.001 p2c_739.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0263" n="739"/><lb n="p2c_739.001"/> Poesie, nahmentlich der Mythologie. Auf der <lb n="p2c_739.002"/> einen Seite ist durch die zunehmende Aufklärung und ein verfeinertes <lb n="p2c_739.003"/> Kunstgefühl eine große Sehnsucht der Einbildungskraft <lb n="p2c_739.004"/> nach den fabelhaften Wesen des griechischen Olymps <lb n="p2c_739.005"/> entstanden, denen man gern ihr volles Bürgerrecht in der <lb n="p2c_739.006"/> poetischen Welt wiedergeben möchte. Man findet in den <lb n="p2c_739.007"/> Griechischen Göttern die Jdeale des höchsten, des ewig seligen <lb n="p2c_739.008"/> Lebens, und glaubt sich durch die reinere Jdee von der <lb n="p2c_739.009"/> Gottheit in eine schauderhafte Wüste versetzt. Auf der andern <lb n="p2c_739.010"/> Seite finden einige, eben den Gedanken, im weiten <lb n="p2c_739.011"/> Weltall mit Einem Schöpfer allein, und nur durch einen <lb n="p2c_739.012"/> Mittler mit ihm vereint zu seyn, so grausend erhaben, so <lb n="p2c_739.013"/> süß melancholisch, die christlichen Jdeen scheinen ihnen von <lb n="p2c_739.014"/> solcher ästhetischer Kraft, daß sie sich vielmehr durch die <lb n="p2c_739.015"/> muntern griechischen Phantasieen gestöhrt glauben würden. <lb n="p2c_739.016"/> Man kann als Repräsentanten der ersten Meynung Boileau <lb n="p2c_739.017"/> und Schiller (in seinen Göttern Griechenlands), als Vertheidiger <lb n="p2c_739.018"/> der zweyten Chateaubriand, den Verfasser der Atala <lb n="p2c_739.019"/> in seinem Genius des Christenthums aufführen. Jn jeder <lb n="p2c_739.020"/> Parthey stehen Männer von Bedeutung an der Spitze. Allein <lb n="p2c_739.021"/> große Dichter lieben, wenn sie philosophiren, die Hyperbel <lb n="p2c_739.022"/> und werden leicht einseitig. Das Christenthum wäre <lb n="p2c_739.023"/> nicht die höchste Wahrheit, wenn es der Phantasie nicht <lb n="p2c_739.024"/> <hi rendition="#g">auch</hi> im Lichte der höchsten Schönheit erscheinen könnte. <lb n="p2c_739.025"/> Und die griechische Mythologie hat wiederum eine naive lebendige <lb n="p2c_739.026"/> Schönheit, welche das Christenthum nicht haben <lb n="p2c_739.027"/> kann, aber auch nicht bedarf. Das Christenthum ist die <lb n="p2c_739.028"/> Mysterie des Lebens, kann in seiner Reinheit nur von den </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [739/0263]
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Poesie, nahmentlich der Mythologie. Auf der p2c_739.002
einen Seite ist durch die zunehmende Aufklärung und ein verfeinertes p2c_739.003
Kunstgefühl eine große Sehnsucht der Einbildungskraft p2c_739.004
nach den fabelhaften Wesen des griechischen Olymps p2c_739.005
entstanden, denen man gern ihr volles Bürgerrecht in der p2c_739.006
poetischen Welt wiedergeben möchte. Man findet in den p2c_739.007
Griechischen Göttern die Jdeale des höchsten, des ewig seligen p2c_739.008
Lebens, und glaubt sich durch die reinere Jdee von der p2c_739.009
Gottheit in eine schauderhafte Wüste versetzt. Auf der andern p2c_739.010
Seite finden einige, eben den Gedanken, im weiten p2c_739.011
Weltall mit Einem Schöpfer allein, und nur durch einen p2c_739.012
Mittler mit ihm vereint zu seyn, so grausend erhaben, so p2c_739.013
süß melancholisch, die christlichen Jdeen scheinen ihnen von p2c_739.014
solcher ästhetischer Kraft, daß sie sich vielmehr durch die p2c_739.015
muntern griechischen Phantasieen gestöhrt glauben würden. p2c_739.016
Man kann als Repräsentanten der ersten Meynung Boileau p2c_739.017
und Schiller (in seinen Göttern Griechenlands), als Vertheidiger p2c_739.018
der zweyten Chateaubriand, den Verfasser der Atala p2c_739.019
in seinem Genius des Christenthums aufführen. Jn jeder p2c_739.020
Parthey stehen Männer von Bedeutung an der Spitze. Allein p2c_739.021
große Dichter lieben, wenn sie philosophiren, die Hyperbel p2c_739.022
und werden leicht einseitig. Das Christenthum wäre p2c_739.023
nicht die höchste Wahrheit, wenn es der Phantasie nicht p2c_739.024
auch im Lichte der höchsten Schönheit erscheinen könnte. p2c_739.025
Und die griechische Mythologie hat wiederum eine naive lebendige p2c_739.026
Schönheit, welche das Christenthum nicht haben p2c_739.027
kann, aber auch nicht bedarf. Das Christenthum ist die p2c_739.028
Mysterie des Lebens, kann in seiner Reinheit nur von den
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