Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_745.001 p2c_745.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0269" n="745"/><lb n="p2c_745.001"/> welche das allegorische Gedicht bedarf, damit man den höhern <lb n="p2c_745.002"/> Sinn errathe. Die mythologischen Gedichte der Alten <lb n="p2c_745.003"/> sind Aggregate von Fabeln ohne alle nähere Verbindung <lb n="p2c_745.004"/> zu einem höhern Sinne. Hiermit verlangen wir nicht, daß <lb n="p2c_745.005"/> ein <hi rendition="#aq">Palaephatus de Incredibilibus</hi> uns vordemonstrire, <lb n="p2c_745.006"/> wie bey Entstehung dieser Fabeln alles <hi rendition="#g">natürlich</hi> zugegangen <lb n="p2c_745.007"/> sey. Eine solche Einsicht in die gesammte Mythologie <lb n="p2c_745.008"/> mag die Aufgeklärten unserer Tage interessiren, denen <lb n="p2c_745.009"/> ein munterer Genius der Aufklärungstrieb mit der Fackel unaufhörlich <lb n="p2c_745.010"/> vorschwebt, die wohl selbst den göttlichen Helden <lb n="p2c_745.011"/> der Bibel sehr zu ehren glauben, wenn sie ihn den Sokrates <lb n="p2c_745.012"/> der Christen nennen. ─ Wir fragen hier, was für nothwendige <lb n="p2c_745.013"/> psychologische Gründe sogar die Heiden bestimmen <lb n="p2c_745.014"/> mußten, die mythologischen Begebenheiten grade so und <lb n="p2c_745.015"/> nicht anders zu <hi rendition="#g">idealisiren.</hi> Ließen sich die philosophischen <lb n="p2c_745.016"/> Wahrheiten auffinden, welche bey Erfindung der Fabeln, <lb n="p2c_745.017"/> ohne daß es die Erfinder <hi rendition="#g">selbst wußten,</hi> die Basis <lb n="p2c_745.018"/> waren, so hätte man die <hi rendition="#g">Mythologie</hi> zur <hi rendition="#g">Allegorie</hi> <lb n="p2c_745.019"/> erhoben. Allein die alten Dichter hingen zu sehr an dem <lb n="p2c_745.020"/> <hi rendition="#g">Mährchenhaften,</hi> hatten keine Uebersicht des Ganzen, <lb n="p2c_745.021"/> konnten also nur Data zu einem künftigen allegorischen Gedicht <lb n="p2c_745.022"/> liefern. So muß man z. B. des Hesiodus Theogonie, <lb n="p2c_745.023"/> die <hi rendition="#g">historischen</hi> Hymnendichter u. s. w. ansehn. <hi rendition="#g">Ovids <lb n="p2c_745.024"/> Metamorphosen</hi> sind ein wunderbares Phänomen. Der <lb n="p2c_745.025"/> <hi rendition="#g">Hauptgedanke</hi> an sich ist für den <hi rendition="#g">Ovid</hi> und überhaupt <lb n="p2c_745.026"/> für die Römische Dichtkunst zu <hi rendition="#g">genialisch.</hi> Daß der römische <lb n="p2c_745.027"/> Dichter bey einzelnen Stellen den Hesiodus, Theokrit, <lb n="p2c_745.028"/> Callimachus vor den Augen gehabt hat, ist bekannt. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [745/0269]
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welche das allegorische Gedicht bedarf, damit man den höhern p2c_745.002
Sinn errathe. Die mythologischen Gedichte der Alten p2c_745.003
sind Aggregate von Fabeln ohne alle nähere Verbindung p2c_745.004
zu einem höhern Sinne. Hiermit verlangen wir nicht, daß p2c_745.005
ein Palaephatus de Incredibilibus uns vordemonstrire, p2c_745.006
wie bey Entstehung dieser Fabeln alles natürlich zugegangen p2c_745.007
sey. Eine solche Einsicht in die gesammte Mythologie p2c_745.008
mag die Aufgeklärten unserer Tage interessiren, denen p2c_745.009
ein munterer Genius der Aufklärungstrieb mit der Fackel unaufhörlich p2c_745.010
vorschwebt, die wohl selbst den göttlichen Helden p2c_745.011
der Bibel sehr zu ehren glauben, wenn sie ihn den Sokrates p2c_745.012
der Christen nennen. ─ Wir fragen hier, was für nothwendige p2c_745.013
psychologische Gründe sogar die Heiden bestimmen p2c_745.014
mußten, die mythologischen Begebenheiten grade so und p2c_745.015
nicht anders zu idealisiren. Ließen sich die philosophischen p2c_745.016
Wahrheiten auffinden, welche bey Erfindung der Fabeln, p2c_745.017
ohne daß es die Erfinder selbst wußten, die Basis p2c_745.018
waren, so hätte man die Mythologie zur Allegorie p2c_745.019
erhoben. Allein die alten Dichter hingen zu sehr an dem p2c_745.020
Mährchenhaften, hatten keine Uebersicht des Ganzen, p2c_745.021
konnten also nur Data zu einem künftigen allegorischen Gedicht p2c_745.022
liefern. So muß man z. B. des Hesiodus Theogonie, p2c_745.023
die historischen Hymnendichter u. s. w. ansehn. Ovids p2c_745.024
Metamorphosen sind ein wunderbares Phänomen. Der p2c_745.025
Hauptgedanke an sich ist für den Ovid und überhaupt p2c_745.026
für die Römische Dichtkunst zu genialisch. Daß der römische p2c_745.027
Dichter bey einzelnen Stellen den Hesiodus, Theokrit, p2c_745.028
Callimachus vor den Augen gehabt hat, ist bekannt.
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