Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_504.001 p2c_504.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0028" n="504"/><lb n="p2c_504.001"/> vieler Völker erzählen von Menschwerdungen <lb n="p2c_504.002"/> Gottes. Brama kam vielmals auf die Erde herab, und <lb n="p2c_504.003"/> der chinesische Foe ist durch einen Sonnenstrahl gezeugt, von <lb n="p2c_504.004"/> einer Jnngfrau gebohren. Allein das sind phantastische <lb n="p2c_504.005"/> Mährchen ohne idealische Wahrheit. Es fehlt ihnen das <lb n="p2c_504.006"/> hohe Muster der Moralität, das allein im höchsten Lichte <lb n="p2c_504.007"/> des Schönen erscheinen kann. Sie zeigen nicht die <hi rendition="#g">göttliche <lb n="p2c_504.008"/> Freyheit</hi> im Gegensatze mit der menschlichen Natur <lb n="p2c_504.009"/> und ihren siegreichen Kampf mit der Welt. Nur allein <lb n="p2c_504.010"/> das Anschaun der höchsten Tugend in ihrer Verklärung kann <lb n="p2c_504.011"/> die <hi rendition="#g">Andacht</hi> erwecken, welche der Mensch für sein höheres <lb n="p2c_504.012"/> Leben bedarf. Die Niedrigkeit der Seelen geht zwar zu <lb n="p2c_504.013"/> unsern Zeiten so weit, daß man alle <hi rendition="#g">Andacht</hi> für <hi rendition="#g">Schwärmerey</hi> <lb n="p2c_504.014"/> ausgiebt, weil man die Andacht, wie alle Moralität, <lb n="p2c_504.015"/> für eine beschwerliche Fessel hält. Jndessen ist das <lb n="p2c_504.016"/> Bedürfniß der Andacht zu einer <hi rendition="#g">seligen</hi> Gemüthsstimmung <lb n="p2c_504.017"/> unläugbar. Nun darf zwar eine <hi rendition="#g">ideale</hi> Weltgeschichte den <lb n="p2c_504.018"/> Aberglauben nicht begründen. Jndessen ist es ihr auch nicht <lb n="p2c_504.019"/> zuzurechnen, wenn Aberglaube und Hierarchie sich ihrer bemächtigt. <lb n="p2c_504.020"/> So ist z. B. die Lehre Christi, der mit so viel <lb n="p2c_504.021"/> Bestimmtheit wider das Pfaffenthum seines Volks aufstand, <lb n="p2c_504.022"/> an jeder Entheiligung unschuldig, die sie in der Folgezeit <lb n="p2c_504.023"/> entstellte. Die Quelle einer solchen <hi rendition="#g">idealen</hi> Weltgeschichte <lb n="p2c_504.024"/> ist <hi rendition="#g">göttliche Begeisterung.</hi> Diese Geschichte ist die <lb n="p2c_504.025"/> einzige, deren Quelle ihre Lauterkeit durch sich selbst, durch <lb n="p2c_504.026"/> ihr alleiniges Daseyn beweisen soll. So wenig man eine <lb n="p2c_504.027"/> Empfindung des Schönen Jemandem eindemonstriren kann, <lb n="p2c_504.028"/> eben so wenig kann eine solche Geschichte einen stärkern Beweis </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [504/0028]
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vieler Völker erzählen von Menschwerdungen p2c_504.002
Gottes. Brama kam vielmals auf die Erde herab, und p2c_504.003
der chinesische Foe ist durch einen Sonnenstrahl gezeugt, von p2c_504.004
einer Jnngfrau gebohren. Allein das sind phantastische p2c_504.005
Mährchen ohne idealische Wahrheit. Es fehlt ihnen das p2c_504.006
hohe Muster der Moralität, das allein im höchsten Lichte p2c_504.007
des Schönen erscheinen kann. Sie zeigen nicht die göttliche p2c_504.008
Freyheit im Gegensatze mit der menschlichen Natur p2c_504.009
und ihren siegreichen Kampf mit der Welt. Nur allein p2c_504.010
das Anschaun der höchsten Tugend in ihrer Verklärung kann p2c_504.011
die Andacht erwecken, welche der Mensch für sein höheres p2c_504.012
Leben bedarf. Die Niedrigkeit der Seelen geht zwar zu p2c_504.013
unsern Zeiten so weit, daß man alle Andacht für Schwärmerey p2c_504.014
ausgiebt, weil man die Andacht, wie alle Moralität, p2c_504.015
für eine beschwerliche Fessel hält. Jndessen ist das p2c_504.016
Bedürfniß der Andacht zu einer seligen Gemüthsstimmung p2c_504.017
unläugbar. Nun darf zwar eine ideale Weltgeschichte den p2c_504.018
Aberglauben nicht begründen. Jndessen ist es ihr auch nicht p2c_504.019
zuzurechnen, wenn Aberglaube und Hierarchie sich ihrer bemächtigt. p2c_504.020
So ist z. B. die Lehre Christi, der mit so viel p2c_504.021
Bestimmtheit wider das Pfaffenthum seines Volks aufstand, p2c_504.022
an jeder Entheiligung unschuldig, die sie in der Folgezeit p2c_504.023
entstellte. Die Quelle einer solchen idealen Weltgeschichte p2c_504.024
ist göttliche Begeisterung. Diese Geschichte ist die p2c_504.025
einzige, deren Quelle ihre Lauterkeit durch sich selbst, durch p2c_504.026
ihr alleiniges Daseyn beweisen soll. So wenig man eine p2c_504.027
Empfindung des Schönen Jemandem eindemonstriren kann, p2c_504.028
eben so wenig kann eine solche Geschichte einen stärkern Beweis
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