Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_778.001 p2c_778.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0302" n="778"/><lb n="p2c_778.001"/> kannten. ─ So zeigt sich die alte Poesie zuerst im <hi rendition="#g">Homer,</hi> <lb n="p2c_778.002"/> welcher als der erste Dichter, und die Quelle derselben angesehn <lb n="p2c_778.003"/> werden kann. Die <hi rendition="#g">neue</hi> Poesie beginnt mit der <lb n="p2c_778.004"/> <hi rendition="#g">Allegorie.</hi> Denn ihre Epoche hat den <hi rendition="#g">Dante</hi> an der <lb n="p2c_778.005"/> Spitze. Den Charakter der <hi rendition="#g">Naivität,</hi> der <hi rendition="#g">individuellen</hi> <lb n="p2c_778.006"/> Lebendigkeit hat sie nicht, weil die Zweydeutigkeit der <lb n="p2c_778.007"/> <hi rendition="#g">Allegorie</hi> sich nicht mit Naivität verträgt. Dagegen <lb n="p2c_778.008"/> zeigt sie alle Grade des <hi rendition="#g">rührenden</hi> Schönen. Geist und <lb n="p2c_778.009"/> Natur sind in der größten Trennung. Das heftige, das <lb n="p2c_778.010"/> starke, das große, das schauderhafte ist geschildert, ohne <lb n="p2c_778.011"/> Beymischung des <hi rendition="#g">niedern</hi> Schönen. Darum entsteht <lb n="p2c_778.012"/> auch, wenn die Trennung aufgehoben wird, das <hi rendition="#g">himmlisch <lb n="p2c_778.013"/> Erhabene.</hi> Uebrigens hat die neue <hi rendition="#g">Poesie</hi> eine <lb n="p2c_778.014"/> sehr alte Quelle, das größte Meisterwerk des Geistes, die <lb n="p2c_778.015"/> <hi rendition="#g">Bibel. Homer</hi> hatte zwar auch Fabeln und Mythologie, <lb n="p2c_778.016"/> die er nur zu sammeln brauchte. Allein die höchste Form <lb n="p2c_778.017"/> der Schönheit mußte er selbst zu seinem Stoffe hinzuthun. <lb n="p2c_778.018"/> Die <hi rendition="#g">neue</hi> Poesie hingegen hatte die <hi rendition="#g">göttliche</hi> Poesie <lb n="p2c_778.019"/> zur <hi rendition="#g">Quelle,</hi> zum Muster, da die Bibel von der Genesis <lb n="p2c_778.020"/> an bis zur Offenbarung Johannis ein großes poetisches Ganzes <lb n="p2c_778.021"/> ist, das die ideale Weltgeschichte vom Anfang bis zum <lb n="p2c_778.022"/> Ende der Zeit in sich begreift. Durch die Bibel steht die <lb n="p2c_778.023"/> <hi rendition="#g">neue</hi> Poesie in Verbindung mit dem Kunstgeschmack der <lb n="p2c_778.024"/> ältesten Völkerschaften des Orients. Die Tendenz der <lb n="p2c_778.025"/> <hi rendition="#g">neuen</hi> Poesie ist also vielleicht eben so alt, als die <hi rendition="#g">Tendenz</hi> <lb n="p2c_778.026"/> der <hi rendition="#g">alten.</hi> Denn dieser Contrast eines innern geistigen <lb n="p2c_778.027"/> <hi rendition="#g">Jdeals</hi> und der äußerlich erniedrigten Menschheit, <lb n="p2c_778.028"/> die Verbindung des kühnsten Gedankens mit den gemeinsten </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [778/0302]
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kannten. ─ So zeigt sich die alte Poesie zuerst im Homer, p2c_778.002
welcher als der erste Dichter, und die Quelle derselben angesehn p2c_778.003
werden kann. Die neue Poesie beginnt mit der p2c_778.004
Allegorie. Denn ihre Epoche hat den Dante an der p2c_778.005
Spitze. Den Charakter der Naivität, der individuellen p2c_778.006
Lebendigkeit hat sie nicht, weil die Zweydeutigkeit der p2c_778.007
Allegorie sich nicht mit Naivität verträgt. Dagegen p2c_778.008
zeigt sie alle Grade des rührenden Schönen. Geist und p2c_778.009
Natur sind in der größten Trennung. Das heftige, das p2c_778.010
starke, das große, das schauderhafte ist geschildert, ohne p2c_778.011
Beymischung des niedern Schönen. Darum entsteht p2c_778.012
auch, wenn die Trennung aufgehoben wird, das himmlisch p2c_778.013
Erhabene. Uebrigens hat die neue Poesie eine p2c_778.014
sehr alte Quelle, das größte Meisterwerk des Geistes, die p2c_778.015
Bibel. Homer hatte zwar auch Fabeln und Mythologie, p2c_778.016
die er nur zu sammeln brauchte. Allein die höchste Form p2c_778.017
der Schönheit mußte er selbst zu seinem Stoffe hinzuthun. p2c_778.018
Die neue Poesie hingegen hatte die göttliche Poesie p2c_778.019
zur Quelle, zum Muster, da die Bibel von der Genesis p2c_778.020
an bis zur Offenbarung Johannis ein großes poetisches Ganzes p2c_778.021
ist, das die ideale Weltgeschichte vom Anfang bis zum p2c_778.022
Ende der Zeit in sich begreift. Durch die Bibel steht die p2c_778.023
neue Poesie in Verbindung mit dem Kunstgeschmack der p2c_778.024
ältesten Völkerschaften des Orients. Die Tendenz der p2c_778.025
neuen Poesie ist also vielleicht eben so alt, als die Tendenz p2c_778.026
der alten. Denn dieser Contrast eines innern geistigen p2c_778.027
Jdeals und der äußerlich erniedrigten Menschheit, p2c_778.028
die Verbindung des kühnsten Gedankens mit den gemeinsten
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