Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_784.001 p2c_784.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0308" n="784"/><lb n="p2c_784.001"/> Je größere Dichter die Alten waren, desto einfacher waren <lb n="p2c_784.002"/> sie hierinn. Schon Euripides erfand mehrere Situationen, <lb n="p2c_784.003"/> weil er sich schwächer fühlte. Daher stammt auch bey den <lb n="p2c_784.004"/> Neuern die Erfindung des abentheuerlichen <hi rendition="#g">romantischen</hi> <lb n="p2c_784.005"/> Gedichts. Zu dieser Gattung gehört Ariost, großentheils <lb n="p2c_784.006"/> Tasso und selbst die Shakespearische Tragödie. Weniger <lb n="p2c_784.007"/> Scenen braucht allerdings Sophocles, einen Charakter, z. B. <lb n="p2c_784.008"/> den Oedipus darzustellen, als Shakespear. Aber freylich, <lb n="p2c_784.009"/> was den Charakteren der <hi rendition="#g">Neuern</hi> an Lebendigkeit abgeht, <lb n="p2c_784.010"/> gewannen sie wieder an Liebenswürdigkeit, innerer Jdealität, <lb n="p2c_784.011"/> feiner psychologischer Zeichnung. Die Gefühle und <lb n="p2c_784.012"/> Leidenschaften der neuern Menschen haben eine Herzlichkeit, <lb n="p2c_784.013"/> ein Jnteresse, eine Tiefe, von der sich die <hi rendition="#g">Alten</hi> keinen Begriff <lb n="p2c_784.014"/> machen konnten. Schon Virgil, wenn gleich sein <lb n="p2c_784.015"/> <hi rendition="#aq">pius Aeneas</hi> ihm mißlang, weiß (besonders in den letzten <lb n="p2c_784.016"/> Büchern) das Herz durch manchen sanften Zug zu interessiren, <lb n="p2c_784.017"/> welcher dem Homer entgehn mußte. <hi rendition="#g">Virgil</hi> war der <lb n="p2c_784.018"/> Umwandlung der religiösen Jdeen auf der Erde näher, und <lb n="p2c_784.019"/> die edlern Geister jener Zeit hatten vielleicht schon eine Ahnung <lb n="p2c_784.020"/> von dem neuen Schwung, welchen die Seelenwelt <lb n="p2c_784.021"/> nehmen würde. Brutus der letzte Bürger war gefallen. <lb n="p2c_784.022"/> Aber die Menschheit sollte ein Bürgerrecht im Himmel erhalten. <lb n="p2c_784.023"/> Darum zeigen sich in der <hi rendition="#g">neuen</hi> Poesie die Menschen <lb n="p2c_784.024"/> von bisher nie geahnten Seiten. Die Krieger im Tasso fechten <lb n="p2c_784.025"/> nicht für eine Helena, sie fechten für das Grab ihres <lb n="p2c_784.026"/> Gottes. Alle Leidenschaften nahmen durch diese und ähnliche <lb n="p2c_784.027"/> Jdeen eine andere Wendung. Wenn Ulysses und Penelope <lb n="p2c_784.028"/> sich ohne alle Ueberspannung aus häuslicher Gewohnheit, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [784/0308]
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Je größere Dichter die Alten waren, desto einfacher waren p2c_784.002
sie hierinn. Schon Euripides erfand mehrere Situationen, p2c_784.003
weil er sich schwächer fühlte. Daher stammt auch bey den p2c_784.004
Neuern die Erfindung des abentheuerlichen romantischen p2c_784.005
Gedichts. Zu dieser Gattung gehört Ariost, großentheils p2c_784.006
Tasso und selbst die Shakespearische Tragödie. Weniger p2c_784.007
Scenen braucht allerdings Sophocles, einen Charakter, z. B. p2c_784.008
den Oedipus darzustellen, als Shakespear. Aber freylich, p2c_784.009
was den Charakteren der Neuern an Lebendigkeit abgeht, p2c_784.010
gewannen sie wieder an Liebenswürdigkeit, innerer Jdealität, p2c_784.011
feiner psychologischer Zeichnung. Die Gefühle und p2c_784.012
Leidenschaften der neuern Menschen haben eine Herzlichkeit, p2c_784.013
ein Jnteresse, eine Tiefe, von der sich die Alten keinen Begriff p2c_784.014
machen konnten. Schon Virgil, wenn gleich sein p2c_784.015
pius Aeneas ihm mißlang, weiß (besonders in den letzten p2c_784.016
Büchern) das Herz durch manchen sanften Zug zu interessiren, p2c_784.017
welcher dem Homer entgehn mußte. Virgil war der p2c_784.018
Umwandlung der religiösen Jdeen auf der Erde näher, und p2c_784.019
die edlern Geister jener Zeit hatten vielleicht schon eine Ahnung p2c_784.020
von dem neuen Schwung, welchen die Seelenwelt p2c_784.021
nehmen würde. Brutus der letzte Bürger war gefallen. p2c_784.022
Aber die Menschheit sollte ein Bürgerrecht im Himmel erhalten. p2c_784.023
Darum zeigen sich in der neuen Poesie die Menschen p2c_784.024
von bisher nie geahnten Seiten. Die Krieger im Tasso fechten p2c_784.025
nicht für eine Helena, sie fechten für das Grab ihres p2c_784.026
Gottes. Alle Leidenschaften nahmen durch diese und ähnliche p2c_784.027
Jdeen eine andere Wendung. Wenn Ulysses und Penelope p2c_784.028
sich ohne alle Ueberspannung aus häuslicher Gewohnheit,
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