Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_513.001
Die Offenbarungen, deren sich dasselbe rühmte, waren zugleich p2c_513.002
eine vollständige religiöse Geschichte der Menschheit p2c_513.003
von Anbeginn. Sie berichten uns, der Mensch sey nicht p2c_513.004
etwa, wie es einem Diodorus Siculus vorkommt, ein autokhthon p2c_513.005
aus Schlamme zufällig geboren, sondern Gott ähnlich p2c_513.006
in äußerer Gestalt, von Gottes Hand geformt worden, p2c_513.007
aber instinktmäßig, wie die übrige Natur, nur ein lebendes, p2c_513.008
begehrendes Wesen (hykh shmk). Nachher habe er aber p2c_513.009
Gottes Vorschrift übertreten, habe die ihm gesetzte Schranke p2c_513.010
des Naturinstinkts niedergerissen, sich dessen geschämt, wie p2c_513.011
Gott frey erkennen wollen, das Gute und Böse, sey so des p2c_513.012
Paradieses verlustig worden, und das Erbübel habe seinen p2c_513.013
Anfang genommen. Von da an beginnen schon die mysteriösen p2c_513.014
Weissagungen, welche das Volk Gottes durch alle p2c_513.015
Perioden seiner Geschichte begleiten. Es ist unbegreiflich, p2c_513.016
wie manche selbst denkende Gottesgelehrte der Vorzeit an der p2c_513.017
Aechtheit der drey ersten Kapitel in der Genesis haben zweifeln p2c_513.018
können, da sie die Grundlage der ganzen biblischen p2c_513.019
Weltgeschichte sind. Von nun an sehen wir, wie sich der p2c_513.020
Mensch von der Gottheit immer mehr entfernt, und sich p2c_513.021
vermißt, ein für sich selbst bestehendes Wesen zu seyn. Aber p2c_513.022
ganz verläßt Gott die Menschheit nicht. Er ist noch zu den p2c_513.023
Zeiten der Erzväter der Gott der Familiengeschlechter, doch p2c_513.024
er ist ein furchtbarer erzürnter Gott, der selbst große Naturbegebenheiten, p2c_513.025
wie die Sündfluth, als moralische Strafen p2c_513.026
verhängt. Späterhin ist er ein kriegerischer Gott, ein Herr p2c_513.027
der Herrschaaren. Er macht durch Mosen die Jsraeliten p2c_513.028
zum Volk, verleiht ihnen den Sieg, giebt ihnen Land, Gesetze

p2c_513.001
Die Offenbarungen, deren sich dasselbe rühmte, waren zugleich p2c_513.002
eine vollständige religiöse Geschichte der Menschheit p2c_513.003
von Anbeginn. Sie berichten uns, der Mensch sey nicht p2c_513.004
etwa, wie es einem Diodorus Siculus vorkommt, ein αὐτοχθων p2c_513.005
aus Schlamme zufällig geboren, sondern Gott ähnlich p2c_513.006
in äußerer Gestalt, von Gottes Hand geformt worden, p2c_513.007
aber instinktmäßig, wie die übrige Natur, nur ein lebendes, p2c_513.008
begehrendes Wesen (‎‏היח שמכ‏‎). Nachher habe er aber p2c_513.009
Gottes Vorschrift übertreten, habe die ihm gesetzte Schranke p2c_513.010
des Naturinstinkts niedergerissen, sich dessen geschämt, wie p2c_513.011
Gott frey erkennen wollen, das Gute und Böse, sey so des p2c_513.012
Paradieses verlustig worden, und das Erbübel habe seinen p2c_513.013
Anfang genommen. Von da an beginnen schon die mysteriösen p2c_513.014
Weissagungen, welche das Volk Gottes durch alle p2c_513.015
Perioden seiner Geschichte begleiten. Es ist unbegreiflich, p2c_513.016
wie manche selbst denkende Gottesgelehrte der Vorzeit an der p2c_513.017
Aechtheit der drey ersten Kapitel in der Genesis haben zweifeln p2c_513.018
können, da sie die Grundlage der ganzen biblischen p2c_513.019
Weltgeschichte sind. Von nun an sehen wir, wie sich der p2c_513.020
Mensch von der Gottheit immer mehr entfernt, und sich p2c_513.021
vermißt, ein für sich selbst bestehendes Wesen zu seyn. Aber p2c_513.022
ganz verläßt Gott die Menschheit nicht. Er ist noch zu den p2c_513.023
Zeiten der Erzväter der Gott der Familiengeschlechter, doch p2c_513.024
er ist ein furchtbarer erzürnter Gott, der selbst große Naturbegebenheiten, p2c_513.025
wie die Sündfluth, als moralische Strafen p2c_513.026
verhängt. Späterhin ist er ein kriegerischer Gott, ein Herr p2c_513.027
der Herrschaaren. Er macht durch Mosen die Jsraeliten p2c_513.028
zum Volk, verleiht ihnen den Sieg, giebt ihnen Land, Gesetze

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0037" n="513"/><lb n="p2c_513.001"/>
Die Offenbarungen, deren sich dasselbe rühmte, waren zugleich <lb n="p2c_513.002"/>
eine vollständige religiöse Geschichte der Menschheit <lb n="p2c_513.003"/>
von Anbeginn. Sie berichten uns, der Mensch sey nicht <lb n="p2c_513.004"/>
etwa, wie es einem Diodorus Siculus vorkommt, ein <foreign xml:lang="grc">&#x03B1;&#x1F50;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C7;&#x03B8;&#x03C9;&#x03BD;</foreign> <lb n="p2c_513.005"/>
aus Schlamme zufällig geboren, sondern Gott <hi rendition="#g">ähnlich</hi> <lb n="p2c_513.006"/>
in äußerer Gestalt, von Gottes Hand geformt worden, <lb n="p2c_513.007"/>
aber instinktmäßig, wie die übrige Natur, nur ein lebendes, <lb n="p2c_513.008"/>
begehrendes Wesen (<foreign xml:lang="hbo">&#x200E;&#x200F;&#x05D4;&#x05D9;&#x05D7; &#x05E9;&#x05DE;&#x05DB;&#x200F;&#x200E;</foreign>). Nachher habe er aber <lb n="p2c_513.009"/>
Gottes Vorschrift übertreten, habe die ihm gesetzte Schranke <lb n="p2c_513.010"/>
des Naturinstinkts niedergerissen, sich dessen geschämt, wie <lb n="p2c_513.011"/>
Gott frey erkennen wollen, das Gute und Böse, sey so des <lb n="p2c_513.012"/>
Paradieses verlustig worden, und das <hi rendition="#g">Erbübel</hi> habe seinen <lb n="p2c_513.013"/>
Anfang genommen. Von da an beginnen schon die mysteriösen <lb n="p2c_513.014"/>
Weissagungen, welche das Volk Gottes durch alle <lb n="p2c_513.015"/>
Perioden seiner Geschichte begleiten. Es ist unbegreiflich, <lb n="p2c_513.016"/>
wie manche selbst denkende Gottesgelehrte der Vorzeit an der <lb n="p2c_513.017"/>
Aechtheit der drey ersten Kapitel in der <hi rendition="#aq">Genesis</hi> haben zweifeln <lb n="p2c_513.018"/>
können, da sie die Grundlage der ganzen biblischen <lb n="p2c_513.019"/>
Weltgeschichte sind. Von nun an sehen wir, wie sich der <lb n="p2c_513.020"/>
Mensch von der Gottheit immer mehr entfernt, und sich <lb n="p2c_513.021"/>
vermißt, ein für sich selbst bestehendes Wesen zu seyn. Aber <lb n="p2c_513.022"/>
ganz verläßt Gott die Menschheit nicht. Er ist noch zu den <lb n="p2c_513.023"/>
Zeiten der Erzväter der Gott der Familiengeschlechter, doch <lb n="p2c_513.024"/>
er ist ein furchtbarer erzürnter Gott, der selbst große Naturbegebenheiten, <lb n="p2c_513.025"/>
wie die Sündfluth, als moralische Strafen <lb n="p2c_513.026"/>
verhängt. Späterhin ist er ein kriegerischer Gott, ein Herr <lb n="p2c_513.027"/>
der Herrschaaren. Er macht durch Mosen die Jsraeliten     <lb n="p2c_513.028"/>
zum Volk, verleiht ihnen den Sieg, giebt ihnen Land, Gesetze
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[513/0037] p2c_513.001 Die Offenbarungen, deren sich dasselbe rühmte, waren zugleich p2c_513.002 eine vollständige religiöse Geschichte der Menschheit p2c_513.003 von Anbeginn. Sie berichten uns, der Mensch sey nicht p2c_513.004 etwa, wie es einem Diodorus Siculus vorkommt, ein αὐτοχθων p2c_513.005 aus Schlamme zufällig geboren, sondern Gott ähnlich p2c_513.006 in äußerer Gestalt, von Gottes Hand geformt worden, p2c_513.007 aber instinktmäßig, wie die übrige Natur, nur ein lebendes, p2c_513.008 begehrendes Wesen (‎‏היח שמכ‏‎). Nachher habe er aber p2c_513.009 Gottes Vorschrift übertreten, habe die ihm gesetzte Schranke p2c_513.010 des Naturinstinkts niedergerissen, sich dessen geschämt, wie p2c_513.011 Gott frey erkennen wollen, das Gute und Böse, sey so des p2c_513.012 Paradieses verlustig worden, und das Erbübel habe seinen p2c_513.013 Anfang genommen. Von da an beginnen schon die mysteriösen p2c_513.014 Weissagungen, welche das Volk Gottes durch alle p2c_513.015 Perioden seiner Geschichte begleiten. Es ist unbegreiflich, p2c_513.016 wie manche selbst denkende Gottesgelehrte der Vorzeit an der p2c_513.017 Aechtheit der drey ersten Kapitel in der Genesis haben zweifeln p2c_513.018 können, da sie die Grundlage der ganzen biblischen p2c_513.019 Weltgeschichte sind. Von nun an sehen wir, wie sich der p2c_513.020 Mensch von der Gottheit immer mehr entfernt, und sich p2c_513.021 vermißt, ein für sich selbst bestehendes Wesen zu seyn. Aber p2c_513.022 ganz verläßt Gott die Menschheit nicht. Er ist noch zu den p2c_513.023 Zeiten der Erzväter der Gott der Familiengeschlechter, doch p2c_513.024 er ist ein furchtbarer erzürnter Gott, der selbst große Naturbegebenheiten, p2c_513.025 wie die Sündfluth, als moralische Strafen p2c_513.026 verhängt. Späterhin ist er ein kriegerischer Gott, ein Herr p2c_513.027 der Herrschaaren. Er macht durch Mosen die Jsraeliten p2c_513.028 zum Volk, verleiht ihnen den Sieg, giebt ihnen Land, Gesetze

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/37
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/37>, abgerufen am 21.11.2024.