Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_536.001 p2c_536.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0060" n="536"/><lb n="p2c_536.001"/> der Ode von dem eigentlichen <hi rendition="#g">Hauptinhalte</hi> unterscheiden. <lb n="p2c_536.002"/> Die <hi rendition="#g">Veranlassung</hi> der Ode kann <hi rendition="#g">bestimmt</hi> <lb n="p2c_536.003"/> seyn. Die Gedankenreihe selbst ist und bleibt <hi rendition="#g">unbestimmt.</hi> <lb n="p2c_536.004"/> Die <hi rendition="#g">Veranlassung</hi> erweckt im Dichter die Empfindung <lb n="p2c_536.005"/> des Schönen, und diese nährt er durch willkührliche Gedanken. <lb n="p2c_536.006"/> Diesen Gedanken nach wechseln im Gedicht Beschreibungen, <lb n="p2c_536.007"/> Lehren, Erzählungen ab. Aber dies alles sind <lb n="p2c_536.008"/> episodische Nebenideen, zusammengekettet durch eine freyere <lb n="p2c_536.009"/> Jdeenassociation. Man hat gefragt, ob eine <hi rendition="#g">Ode Handlung</hi> <lb n="p2c_536.010"/> enthalten könnte. Jm eigentlichen Sinne dieses <lb n="p2c_536.011"/> Worts muß die Frage verneint werden. Die Darstellung <lb n="p2c_536.012"/> einer <hi rendition="#g">Handlung</hi> würde die Jdeenreihe nicht durch sich <lb n="p2c_536.013"/> selbst, sondern durch äußere Umstände ganz bestimmen. <lb n="p2c_536.014"/> <hi rendition="#g">Oden</hi> sind also fehlerhaft, wo man sich den Gang der Gedanken <lb n="p2c_536.015"/> nicht durch die Gemüthsstimmung des Dichters selbst, <lb n="p2c_536.016"/> sondern durch vorausgesetzte äußere Veränderungen erklären <lb n="p2c_536.017"/> soll. Wenn also z. B. in einer Ode sich der Dichter eine <lb n="p2c_536.018"/> geliebte Nymphe denkt, die er verfolgt, und plötzlich ausruft: <lb n="p2c_536.019"/> „Ha, dich, flüchtiges Reh, dich hab ich erhascht!“ <lb n="p2c_536.020"/> so ist dies nicht zu billigen, weil man sich dabey <hi rendition="#g">äußere</hi> <lb n="p2c_536.021"/> Umstände denken muß, die die Jdeenreihe nicht bloß veranlassen, <lb n="p2c_536.022"/> sondern immerfort nen bestimmen. Es giebt zwar <lb n="p2c_536.023"/> ganz erzählende Oden, der Einkleidung nach, z. B. die <lb n="p2c_536.024"/> Weissagung des Nereus, Horaz <hi rendition="#aq">I</hi>. 15. Allein wenn gleich <lb n="p2c_536.025"/> die Vorbereitung historisch ist, welche uns einen Schauplatz <lb n="p2c_536.026"/> gleichsam für die Ode bestimmt, so ist doch die Weissagung <lb n="p2c_536.027"/> des Nereus selbst <hi rendition="#g">lyrisch,</hi> eine ganz <hi rendition="#g">freye, objektiv</hi> <lb n="p2c_536.028"/> unbestimmte Gedankenreihe. Es giebt auch <hi rendition="#g">dramati= </hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [536/0060]
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der Ode von dem eigentlichen Hauptinhalte unterscheiden. p2c_536.002
Die Veranlassung der Ode kann bestimmt p2c_536.003
seyn. Die Gedankenreihe selbst ist und bleibt unbestimmt. p2c_536.004
Die Veranlassung erweckt im Dichter die Empfindung p2c_536.005
des Schönen, und diese nährt er durch willkührliche Gedanken. p2c_536.006
Diesen Gedanken nach wechseln im Gedicht Beschreibungen, p2c_536.007
Lehren, Erzählungen ab. Aber dies alles sind p2c_536.008
episodische Nebenideen, zusammengekettet durch eine freyere p2c_536.009
Jdeenassociation. Man hat gefragt, ob eine Ode Handlung p2c_536.010
enthalten könnte. Jm eigentlichen Sinne dieses p2c_536.011
Worts muß die Frage verneint werden. Die Darstellung p2c_536.012
einer Handlung würde die Jdeenreihe nicht durch sich p2c_536.013
selbst, sondern durch äußere Umstände ganz bestimmen. p2c_536.014
Oden sind also fehlerhaft, wo man sich den Gang der Gedanken p2c_536.015
nicht durch die Gemüthsstimmung des Dichters selbst, p2c_536.016
sondern durch vorausgesetzte äußere Veränderungen erklären p2c_536.017
soll. Wenn also z. B. in einer Ode sich der Dichter eine p2c_536.018
geliebte Nymphe denkt, die er verfolgt, und plötzlich ausruft: p2c_536.019
„Ha, dich, flüchtiges Reh, dich hab ich erhascht!“ p2c_536.020
so ist dies nicht zu billigen, weil man sich dabey äußere p2c_536.021
Umstände denken muß, die die Jdeenreihe nicht bloß veranlassen, p2c_536.022
sondern immerfort nen bestimmen. Es giebt zwar p2c_536.023
ganz erzählende Oden, der Einkleidung nach, z. B. die p2c_536.024
Weissagung des Nereus, Horaz I. 15. Allein wenn gleich p2c_536.025
die Vorbereitung historisch ist, welche uns einen Schauplatz p2c_536.026
gleichsam für die Ode bestimmt, so ist doch die Weissagung p2c_536.027
des Nereus selbst lyrisch, eine ganz freye, objektiv p2c_536.028
unbestimmte Gedankenreihe. Es giebt auch dramati=
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