Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite



ter habens mir erzählt, daß sie darinnen ihre
Ruhe, ihren Ruhm, ihre Zufriedenheit und
Glückseeligkeit gefunden haben, und haben sie
nicht gewollt, daß ich eben so ruhig, so zufrie-
den, so löblich und glückseelig werden möchte,
als sie? Wenn ich so unglücklich wäre, daß ich
selbst noch keine Erfahrung hätte, wie seelig die
zu preisen sind, die ihn kennen, was brauchte es
mehr, mein Verlangen nach seiner Erkenntniß
zu entflammen, als zu wissen, daß andre vor
mir dadurch glücklich geworden sind? Jst nicht
meine heißeste Sehnsucht, die Sehnsucht glück-
lich zu seyn? Wer empfindet einen brennenden
Durst, ohne sich nach der Quelle umzusehen, die
ihn löschen kann?

Ein Mensch hat einen Freund und Wohl-
thäter, dem er alles schuldig ist, Ehre, Ver-
gnügen und Glück; er empfängt täglich Wohl-
thaten von ihm, ob er gleich so weit von ihm ent-
fernt ist, daß er seines persönlichen Umganges
nicht genießen, noch ihm in seiner Gegenwart die
Empfindungen von Ehrfurcht, Liebe und Dank-
barkeit bezeugen kann, von denen seine Seele ge-
gen ihn durchdrungen ist. Kann er, darf er
darum gleichgültig gegen ihn bleiben, weil er ihn
nicht von Angesicht zu Angesicht sehen kann?

Sollte
B 2



ter habens mir erzählt, daß ſie darinnen ihre
Ruhe, ihren Ruhm, ihre Zufriedenheit und
Glückſeeligkeit gefunden haben, und haben ſie
nicht gewollt, daß ich eben ſo ruhig, ſo zufrie-
den, ſo löblich und glückſeelig werden möchte,
als ſie? Wenn ich ſo unglücklich wäre, daß ich
ſelbſt noch keine Erfahrung hätte, wie ſeelig die
zu preiſen ſind, die ihn kennen, was brauchte es
mehr, mein Verlangen nach ſeiner Erkenntniß
zu entflammen, als zu wiſſen, daß andre vor
mir dadurch glücklich geworden ſind? Jſt nicht
meine heißeſte Sehnſucht, die Sehnſucht glück-
lich zu ſeyn? Wer empfindet einen brennenden
Durſt, ohne ſich nach der Quelle umzuſehen, die
ihn löſchen kann?

Ein Menſch hat einen Freund und Wohl-
thäter, dem er alles ſchuldig iſt, Ehre, Ver-
gnügen und Glück; er empfängt täglich Wohl-
thaten von ihm, ob er gleich ſo weit von ihm ent-
fernt iſt, daß er ſeines perſönlichen Umganges
nicht genießen, noch ihm in ſeiner Gegenwart die
Empfindungen von Ehrfurcht, Liebe und Dank-
barkeit bezeugen kann, von denen ſeine Seele ge-
gen ihn durchdrungen iſt. Kann er, darf er
darum gleichgültig gegen ihn bleiben, weil er ihn
nicht von Angeſicht zu Angeſicht ſehen kann?

Sollte
B 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0033" n="19"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ter habens mir erzählt, daß &#x017F;ie darinnen ihre<lb/>
Ruhe, ihren Ruhm, ihre Zufriedenheit und<lb/>
Glück&#x017F;eeligkeit gefunden haben, und haben &#x017F;ie<lb/>
nicht gewollt, daß ich eben &#x017F;o ruhig, &#x017F;o zufrie-<lb/>
den, &#x017F;o löblich und glück&#x017F;eelig werden möchte,<lb/>
als &#x017F;ie? Wenn ich &#x017F;o unglücklich wäre, daß ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t noch keine Erfahrung hätte, wie &#x017F;eelig die<lb/>
zu prei&#x017F;en &#x017F;ind, die ihn kennen, was brauchte es<lb/>
mehr, mein Verlangen nach &#x017F;einer Erkenntniß<lb/>
zu entflammen, als zu wi&#x017F;&#x017F;en, daß andre vor<lb/>
mir dadurch glücklich geworden &#x017F;ind? J&#x017F;t nicht<lb/>
meine heiße&#x017F;te Sehn&#x017F;ucht, die Sehn&#x017F;ucht glück-<lb/>
lich zu &#x017F;eyn? Wer empfindet einen brennenden<lb/>
Dur&#x017F;t, ohne &#x017F;ich nach der Quelle umzu&#x017F;ehen, die<lb/>
ihn lö&#x017F;chen kann?</p><lb/>
        <p>Ein Men&#x017F;ch hat einen Freund und Wohl-<lb/>
thäter, dem er alles &#x017F;chuldig i&#x017F;t, Ehre, Ver-<lb/>
gnügen und Glück; er empfängt täglich Wohl-<lb/>
thaten von ihm, ob er gleich &#x017F;o weit von ihm ent-<lb/>
fernt i&#x017F;t, daß er &#x017F;eines per&#x017F;önlichen Umganges<lb/>
nicht genießen, noch ihm in &#x017F;einer Gegenwart die<lb/>
Empfindungen von Ehrfurcht, Liebe und Dank-<lb/>
barkeit bezeugen kann, von denen &#x017F;eine Seele ge-<lb/>
gen ihn durchdrungen i&#x017F;t. Kann er, darf er<lb/>
darum gleichgültig gegen ihn bleiben, weil er ihn<lb/>
nicht von Ange&#x017F;icht zu Ange&#x017F;icht &#x017F;ehen kann?<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Sollte</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0033] ter habens mir erzählt, daß ſie darinnen ihre Ruhe, ihren Ruhm, ihre Zufriedenheit und Glückſeeligkeit gefunden haben, und haben ſie nicht gewollt, daß ich eben ſo ruhig, ſo zufrie- den, ſo löblich und glückſeelig werden möchte, als ſie? Wenn ich ſo unglücklich wäre, daß ich ſelbſt noch keine Erfahrung hätte, wie ſeelig die zu preiſen ſind, die ihn kennen, was brauchte es mehr, mein Verlangen nach ſeiner Erkenntniß zu entflammen, als zu wiſſen, daß andre vor mir dadurch glücklich geworden ſind? Jſt nicht meine heißeſte Sehnſucht, die Sehnſucht glück- lich zu ſeyn? Wer empfindet einen brennenden Durſt, ohne ſich nach der Quelle umzuſehen, die ihn löſchen kann? Ein Menſch hat einen Freund und Wohl- thäter, dem er alles ſchuldig iſt, Ehre, Ver- gnügen und Glück; er empfängt täglich Wohl- thaten von ihm, ob er gleich ſo weit von ihm ent- fernt iſt, daß er ſeines perſönlichen Umganges nicht genießen, noch ihm in ſeiner Gegenwart die Empfindungen von Ehrfurcht, Liebe und Dank- barkeit bezeugen kann, von denen ſeine Seele ge- gen ihn durchdrungen iſt. Kann er, darf er darum gleichgültig gegen ihn bleiben, weil er ihn nicht von Angeſicht zu Angeſicht ſehen kann? Sollte B 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/33
Zitationshilfe: Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/33>, abgerufen am 21.11.2024.