Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite



nen, legen wir tausend kleinen und eiteln Vergnü-
gungen einen höhern Werth bey, als sie haben.
Je mehr wir an einem uns angenehmen Gegen-
stande Vollkommenheiten entdecken; je vortreffli-
cher er nicht allein wegen der Menge, sondern
auch wegen des hohen Grades seiner Vorzüge ist,
eine desto größre und lebhaftere Freude wird er
uns verursachen, wenn wir sie kennen! Was für
ein Strom von Entzücken muß sich denn nicht in
unsre freudenbegierigen Seelen ergießen, wenn
wir das Wesen kennen, welches die ewig uner-
schöpfliche Fülle aller Vollkommenheit und Schön-
heit ist? Oder wird man vielleicht aus der Quelle
selbst seinen Durst nach Vollkommenheit und
Freude löschen können, wenn man sich schon in ei-
nem kleinen davon abgeleiteten Bache erquicken
kann? Aber Gott kennen, heißt freylich nicht ei-
nige Wahrheiten von ihm in seiner Kindheit mit
Mühe und Verdruß ins Gedächtniß verwahrt zu
haben, ohne zu verstehen, welche Schätze man
besitze, ohne über sein majestätisches Wesen, über
seine unendlichen Eigenschaften, und den deutli-
chen Abdruck derselben in seinen Werken nachzu-
denken, ohne seine Vorstellungen von ihm zu der
Deutlichkeit, Richtigkeit, Gewißheit und Leb-
haftigkeit zu bringen, die sie haben sollen. Ein
Vergnügen, das vornehmlich den Verstand an-

geht,
Erster Theil. D



nen, legen wir tauſend kleinen und eiteln Vergnü-
gungen einen höhern Werth bey, als ſie haben.
Je mehr wir an einem uns angenehmen Gegen-
ſtande Vollkommenheiten entdecken; je vortreffli-
cher er nicht allein wegen der Menge, ſondern
auch wegen des hohen Grades ſeiner Vorzüge iſt,
eine deſto größre und lebhaftere Freude wird er
uns verurſachen, wenn wir ſie kennen! Was für
ein Strom von Entzücken muß ſich denn nicht in
unſre freudenbegierigen Seelen ergießen, wenn
wir das Weſen kennen, welches die ewig uner-
ſchöpfliche Fülle aller Vollkommenheit und Schön-
heit iſt? Oder wird man vielleicht aus der Quelle
ſelbſt ſeinen Durſt nach Vollkommenheit und
Freude löſchen können, wenn man ſich ſchon in ei-
nem kleinen davon abgeleiteten Bache erquicken
kann? Aber Gott kennen, heißt freylich nicht ei-
nige Wahrheiten von ihm in ſeiner Kindheit mit
Mühe und Verdruß ins Gedächtniß verwahrt zu
haben, ohne zu verſtehen, welche Schätze man
beſitze, ohne über ſein majeſtätiſches Weſen, über
ſeine unendlichen Eigenſchaften, und den deutli-
chen Abdruck derſelben in ſeinen Werken nachzu-
denken, ohne ſeine Vorſtellungen von ihm zu der
Deutlichkeit, Richtigkeit, Gewißheit und Leb-
haftigkeit zu bringen, die ſie haben ſollen. Ein
Vergnügen, das vornehmlich den Verſtand an-

geht,
Erſter Theil. D
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0063" n="49"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
nen, legen wir tau&#x017F;end kleinen und eiteln Vergnü-<lb/>
gungen einen höhern Werth bey, als &#x017F;ie haben.<lb/>
Je mehr wir an einem uns angenehmen Gegen-<lb/>
&#x017F;tande Vollkommenheiten entdecken; je vortreffli-<lb/>
cher er nicht allein wegen der Menge, &#x017F;ondern<lb/>
auch wegen des hohen Grades &#x017F;einer Vorzüge i&#x017F;t,<lb/>
eine de&#x017F;to größre und lebhaftere Freude wird er<lb/>
uns verur&#x017F;achen, wenn wir &#x017F;ie kennen! Was für<lb/>
ein Strom von Entzücken muß &#x017F;ich denn nicht in<lb/>
un&#x017F;re freudenbegierigen Seelen ergießen, wenn<lb/>
wir das We&#x017F;en kennen, welches die ewig uner-<lb/>
&#x017F;chöpfliche Fülle aller Vollkommenheit und Schön-<lb/>
heit i&#x017F;t? Oder wird man vielleicht aus der Quelle<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;einen Dur&#x017F;t nach Vollkommenheit und<lb/>
Freude lö&#x017F;chen können, wenn man &#x017F;ich &#x017F;chon in ei-<lb/>
nem kleinen davon abgeleiteten Bache erquicken<lb/>
kann? Aber Gott kennen, heißt freylich nicht ei-<lb/>
nige Wahrheiten von ihm in &#x017F;einer Kindheit mit<lb/>
Mühe und Verdruß ins Gedächtniß verwahrt zu<lb/>
haben, ohne zu ver&#x017F;tehen, welche Schätze man<lb/>
be&#x017F;itze, ohne über &#x017F;ein maje&#x017F;täti&#x017F;ches We&#x017F;en, über<lb/>
&#x017F;eine unendlichen Eigen&#x017F;chaften, und den deutli-<lb/>
chen Abdruck der&#x017F;elben in &#x017F;einen Werken nachzu-<lb/>
denken, ohne &#x017F;eine Vor&#x017F;tellungen von ihm zu der<lb/>
Deutlichkeit, Richtigkeit, Gewißheit und Leb-<lb/>
haftigkeit zu bringen, die &#x017F;ie haben &#x017F;ollen. Ein<lb/>
Vergnügen, das vornehmlich den Ver&#x017F;tand an-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Er&#x017F;ter Theil. D</fw><fw place="bottom" type="catch">geht,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0063] nen, legen wir tauſend kleinen und eiteln Vergnü- gungen einen höhern Werth bey, als ſie haben. Je mehr wir an einem uns angenehmen Gegen- ſtande Vollkommenheiten entdecken; je vortreffli- cher er nicht allein wegen der Menge, ſondern auch wegen des hohen Grades ſeiner Vorzüge iſt, eine deſto größre und lebhaftere Freude wird er uns verurſachen, wenn wir ſie kennen! Was für ein Strom von Entzücken muß ſich denn nicht in unſre freudenbegierigen Seelen ergießen, wenn wir das Weſen kennen, welches die ewig uner- ſchöpfliche Fülle aller Vollkommenheit und Schön- heit iſt? Oder wird man vielleicht aus der Quelle ſelbſt ſeinen Durſt nach Vollkommenheit und Freude löſchen können, wenn man ſich ſchon in ei- nem kleinen davon abgeleiteten Bache erquicken kann? Aber Gott kennen, heißt freylich nicht ei- nige Wahrheiten von ihm in ſeiner Kindheit mit Mühe und Verdruß ins Gedächtniß verwahrt zu haben, ohne zu verſtehen, welche Schätze man beſitze, ohne über ſein majeſtätiſches Weſen, über ſeine unendlichen Eigenſchaften, und den deutli- chen Abdruck derſelben in ſeinen Werken nachzu- denken, ohne ſeine Vorſtellungen von ihm zu der Deutlichkeit, Richtigkeit, Gewißheit und Leb- haftigkeit zu bringen, die ſie haben ſollen. Ein Vergnügen, das vornehmlich den Verſtand an- geht, Erſter Theil. D

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/63
Zitationshilfe: Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/63>, abgerufen am 21.11.2024.