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Cramer, Wilhelm: Der christliche Vater wie er sein und was er thun soll. Nebst einem Anhange von Gebeten für denselben. Dülmen, 1874.

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verlassener Kinder annehme. Bald reifte der Ent-
schluß, dem Winke zu folgen. Die Frau war von
ganzem Herzen einverstanden. Nicht lange, da zog
das erste Kind, ein Waisenkind, ein; ihm folgte bald
ein zweites, und schließlich hatte er sechs verwahrlo-
sete oder verwaisete Kinder. Niemand, der's nicht
gewußt oder an der zu großen Verschiedenheit der
Gesichtsbildung es gemerkt hätte, würde auf den Ge-
danken gekommen sein, daß das lauter fremde Kin-
der seien; so sehr hielt der Pflegvater sie als seine
eigenen Kinder: Mit solchem Eifer ging er, um für
die zahlreiche Familie zu erwerben, seinen Arbeiten
und Geschäften nach; und es wurde für die Kinder
angeschafft, ausgegeben, Sorge getragen - ganz und
gar so, wie es von einem Vater nur immer für
eigene Kinder geschehen mag.

Welchen Eindruck, christlicher Vater, macht diese
Erzählung auf dich, der du aus Erfahrung weißt,
was ein Kind, was zwei, drei, was gar sechs kleine
Kinder an Arbeit, Mühe, Sorge, Aufopferung von
Tag zu Tag in Anspruch nehmen - Jahre lang?
Wir irren schwerlich, wenn wir in diesem Eindrucke
insbesondere einen Gedanken voraussetzen, den Ge-
danken: "Welchen Schatz von Verdiensten sammelte
sich dieser Vater, wie groß wird sein Lohn sein!"

Freilich, der Gedanke drängt sich im Anhören
unserer Erzählung vor; auch wir hatten ihn mehr
als einmal. Denn rechnet man zusammen, was so
viele Kinder dem Pflegevater täglich kosteten, welche
Mühewaltungen und Anstrengungen sie ihm täglich
verursachen, und wie hoch sich das alles im Laufe
des Jahres belief; und bedenkt man dann, daß der
Herr nicht einen Trunk Wassers, in Liebe gereicht,

verlassener Kinder annehme. Bald reifte der Ent-
schluß, dem Winke zu folgen. Die Frau war von
ganzem Herzen einverstanden. Nicht lange, da zog
das erste Kind, ein Waisenkind, ein; ihm folgte bald
ein zweites, und schließlich hatte er sechs verwahrlo-
sete oder verwaisete Kinder. Niemand, der's nicht
gewußt oder an der zu großen Verschiedenheit der
Gesichtsbildung es gemerkt hätte, würde auf den Ge-
danken gekommen sein, daß das lauter fremde Kin-
der seien; so sehr hielt der Pflegvater sie als seine
eigenen Kinder: Mit solchem Eifer ging er, um für
die zahlreiche Familie zu erwerben, seinen Arbeiten
und Geschäften nach; und es wurde für die Kinder
angeschafft, ausgegeben, Sorge getragen – ganz und
gar so, wie es von einem Vater nur immer für
eigene Kinder geschehen mag.

Welchen Eindruck, christlicher Vater, macht diese
Erzählung auf dich, der du aus Erfahrung weißt,
was ein Kind, was zwei, drei, was gar sechs kleine
Kinder an Arbeit, Mühe, Sorge, Aufopferung von
Tag zu Tag in Anspruch nehmen – Jahre lang?
Wir irren schwerlich, wenn wir in diesem Eindrucke
insbesondere einen Gedanken voraussetzen, den Ge-
danken: „Welchen Schatz von Verdiensten sammelte
sich dieser Vater, wie groß wird sein Lohn sein!“

Freilich, der Gedanke drängt sich im Anhören
unserer Erzählung vor; auch wir hatten ihn mehr
als einmal. Denn rechnet man zusammen, was so
viele Kinder dem Pflegevater täglich kosteten, welche
Mühewaltungen und Anstrengungen sie ihm täglich
verursachen, und wie hoch sich das alles im Laufe
des Jahres belief; und bedenkt man dann, daß der
Herr nicht einen Trunk Wassers, in Liebe gereicht,

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[88/0091] verlassener Kinder annehme. Bald reifte der Ent- schluß, dem Winke zu folgen. Die Frau war von ganzem Herzen einverstanden. Nicht lange, da zog das erste Kind, ein Waisenkind, ein; ihm folgte bald ein zweites, und schließlich hatte er sechs verwahrlo- sete oder verwaisete Kinder. Niemand, der's nicht gewußt oder an der zu großen Verschiedenheit der Gesichtsbildung es gemerkt hätte, würde auf den Ge- danken gekommen sein, daß das lauter fremde Kin- der seien; so sehr hielt der Pflegvater sie als seine eigenen Kinder: Mit solchem Eifer ging er, um für die zahlreiche Familie zu erwerben, seinen Arbeiten und Geschäften nach; und es wurde für die Kinder angeschafft, ausgegeben, Sorge getragen – ganz und gar so, wie es von einem Vater nur immer für eigene Kinder geschehen mag. Welchen Eindruck, christlicher Vater, macht diese Erzählung auf dich, der du aus Erfahrung weißt, was ein Kind, was zwei, drei, was gar sechs kleine Kinder an Arbeit, Mühe, Sorge, Aufopferung von Tag zu Tag in Anspruch nehmen – Jahre lang? Wir irren schwerlich, wenn wir in diesem Eindrucke insbesondere einen Gedanken voraussetzen, den Ge- danken: „Welchen Schatz von Verdiensten sammelte sich dieser Vater, wie groß wird sein Lohn sein!“ Freilich, der Gedanke drängt sich im Anhören unserer Erzählung vor; auch wir hatten ihn mehr als einmal. Denn rechnet man zusammen, was so viele Kinder dem Pflegevater täglich kosteten, welche Mühewaltungen und Anstrengungen sie ihm täglich verursachen, und wie hoch sich das alles im Laufe des Jahres belief; und bedenkt man dann, daß der Herr nicht einen Trunk Wassers, in Liebe gereicht,

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Zitationshilfe: Cramer, Wilhelm: Der christliche Vater wie er sein und was er thun soll. Nebst einem Anhange von Gebeten für denselben. Dülmen, 1874, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_mutter_1874/91>, abgerufen am 24.11.2024.