Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XVI. Betrachtung.
drungen.*) Alle fremden Gedanken mußten da flie-
hen; er dachte an nichts, als an Gott, dem er sei-
ne und aller Menschen Angelegenheiten so dringend
zu empfehlen wußte. Er betete auf eine ganz unge-
künstelte Art, aber auch mit kindlicher Freudigkeit
und mit getrostem Vertrauen; ja man kann von ihm
mit Wahrheit behaupten, er habe die Welt zuerst
recht beten gelehrt.

War aber das Gebet selbst für unsern Erlöser
Bedürfniß, so können wir es gewiß noch weit weni-
ger entbehren. Oder gehören wir etwa zu den fre-
chen Spöttern, die mit leichtsinnigem Stolze alles Ge-
bet für überflüßig erklären, es als unnütze verwer-
fen, und die sich desselben schämen? Oder wollen wir
erst warten, bis uns die Noth zum Gebet antreibt,
und bis die Trübsal uns Gott suchen lehrt, nachdem
wir seiner in guten Tagen vergessen, und ihm wohl
gar Hohn gesprochen hatten? Freylich gewinnt der
große und erhabene Gott nichts durch unser Gebet,
freylich dürfen wir ihn dadurch nicht erst mit unsern
Bedürfnissen bekannt machen, denn er, unser himmli-
scher Vater, weis alles, was wir bedürfen,
**)
ehe wir es ihm klagen; freylich bedarf er unsers Fle-
hens nicht, um zum Mitleid gegen uns bewegt zu
werden, denn er ist allen gütig und erbarmet sich al-
ler seiner Werke.
***) Aber für uns ist es Ehre

und
*) Joh. 17, 1.
**) Matth. 7, 32.
***) Ps. 145, 9.

XVI. Betrachtung.
drungen.*) Alle fremden Gedanken mußten da flie-
hen; er dachte an nichts, als an Gott, dem er ſei-
ne und aller Menſchen Angelegenheiten ſo dringend
zu empfehlen wußte. Er betete auf eine ganz unge-
künſtelte Art, aber auch mit kindlicher Freudigkeit
und mit getroſtem Vertrauen; ja man kann von ihm
mit Wahrheit behaupten, er habe die Welt zuerſt
recht beten gelehrt.

War aber das Gebet ſelbſt für unſern Erlöſer
Bedürfniß, ſo können wir es gewiß noch weit weni-
ger entbehren. Oder gehören wir etwa zu den fre-
chen Spöttern, die mit leichtſinnigem Stolze alles Ge-
bet für überflüßig erklären, es als unnütze verwer-
fen, und die ſich deſſelben ſchämen? Oder wollen wir
erſt warten, bis uns die Noth zum Gebet antreibt,
und bis die Trübſal uns Gott ſuchen lehrt, nachdem
wir ſeiner in guten Tagen vergeſſen, und ihm wohl
gar Hohn geſprochen hatten? Freylich gewinnt der
große und erhabene Gott nichts durch unſer Gebet,
freylich dürfen wir ihn dadurch nicht erſt mit unſern
Bedürfniſſen bekannt machen, denn er, unſer himmli-
ſcher Vater, weis alles, was wir bedürfen,
**)
ehe wir es ihm klagen; freylich bedarf er unſers Fle-
hens nicht, um zum Mitleid gegen uns bewegt zu
werden, denn er iſt allen gütig und erbarmet ſich al-
ler ſeiner Werke.
***) Aber für uns iſt es Ehre

und
*) Joh. 17, 1.
**) Matth. 7, 32.
***) Pſ. 145, 9.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0126" n="100"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
drungen.<note place="foot" n="*)">Joh. 17, 1.</note> Alle fremden Gedanken mußten da flie-<lb/>
hen; er dachte an nichts, als an Gott, dem er &#x017F;ei-<lb/>
ne und aller Men&#x017F;chen Angelegenheiten &#x017F;o dringend<lb/>
zu empfehlen wußte. Er betete auf eine ganz unge-<lb/>
kün&#x017F;telte Art, aber auch mit kindlicher Freudigkeit<lb/>
und mit getro&#x017F;tem Vertrauen; ja man kann von ihm<lb/>
mit Wahrheit behaupten, er habe die Welt zuer&#x017F;t<lb/>
recht beten gelehrt.</p><lb/>
          <p>War aber das Gebet &#x017F;elb&#x017F;t für un&#x017F;ern Erlö&#x017F;er<lb/>
Bedürfniß, &#x017F;o können wir es gewiß noch weit weni-<lb/>
ger entbehren. Oder gehören wir etwa zu den fre-<lb/>
chen Spöttern, die mit leicht&#x017F;innigem Stolze alles Ge-<lb/>
bet für überflüßig erklären, es als unnütze verwer-<lb/>
fen, und die &#x017F;ich de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;chämen? Oder wollen wir<lb/>
er&#x017F;t warten, bis uns die Noth zum Gebet antreibt,<lb/>
und bis die Trüb&#x017F;al uns Gott &#x017F;uchen lehrt, nachdem<lb/>
wir &#x017F;einer in guten Tagen verge&#x017F;&#x017F;en, und ihm wohl<lb/>
gar Hohn ge&#x017F;prochen hatten? Freylich gewinnt der<lb/>
große und erhabene Gott nichts durch un&#x017F;er Gebet,<lb/>
freylich dürfen wir ihn dadurch nicht er&#x017F;t mit un&#x017F;ern<lb/>
Bedürfni&#x017F;&#x017F;en bekannt machen, denn er, <hi rendition="#fr">un&#x017F;er himmli-<lb/>
&#x017F;cher Vater, weis alles, was wir bedürfen,</hi><note place="foot" n="**)">Matth. 7, 32.</note><lb/>
ehe wir es ihm klagen; freylich bedarf er un&#x017F;ers Fle-<lb/>
hens nicht, um zum Mitleid gegen uns bewegt zu<lb/>
werden, denn er i&#x017F;t <hi rendition="#fr">allen gütig und erbarmet &#x017F;ich al-<lb/>
ler &#x017F;einer Werke.</hi><note place="foot" n="***)">P&#x017F;. 145, 9.</note> Aber für uns i&#x017F;t es Ehre<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0126] XVI. Betrachtung. drungen. *) Alle fremden Gedanken mußten da flie- hen; er dachte an nichts, als an Gott, dem er ſei- ne und aller Menſchen Angelegenheiten ſo dringend zu empfehlen wußte. Er betete auf eine ganz unge- künſtelte Art, aber auch mit kindlicher Freudigkeit und mit getroſtem Vertrauen; ja man kann von ihm mit Wahrheit behaupten, er habe die Welt zuerſt recht beten gelehrt. War aber das Gebet ſelbſt für unſern Erlöſer Bedürfniß, ſo können wir es gewiß noch weit weni- ger entbehren. Oder gehören wir etwa zu den fre- chen Spöttern, die mit leichtſinnigem Stolze alles Ge- bet für überflüßig erklären, es als unnütze verwer- fen, und die ſich deſſelben ſchämen? Oder wollen wir erſt warten, bis uns die Noth zum Gebet antreibt, und bis die Trübſal uns Gott ſuchen lehrt, nachdem wir ſeiner in guten Tagen vergeſſen, und ihm wohl gar Hohn geſprochen hatten? Freylich gewinnt der große und erhabene Gott nichts durch unſer Gebet, freylich dürfen wir ihn dadurch nicht erſt mit unſern Bedürfniſſen bekannt machen, denn er, unſer himmli- ſcher Vater, weis alles, was wir bedürfen, **) ehe wir es ihm klagen; freylich bedarf er unſers Fle- hens nicht, um zum Mitleid gegen uns bewegt zu werden, denn er iſt allen gütig und erbarmet ſich al- ler ſeiner Werke. ***) Aber für uns iſt es Ehre und *) Joh. 17, 1. **) Matth. 7, 32. ***) Pſ. 145, 9.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/126
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/126>, abgerufen am 21.11.2024.