Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXV. Betrachtung. und habe deswegen oft von den Pharisäern bittereund spöttische Vorwürfe anhören müssen. So hieß es z. B. Es nahten sich allerley Zöllner und Sünder zu ihm, daß sie ihn hörten, und die Pharisäer murr- ten und sprachen: dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen.*) Denn obgleich diese Scheinhei- lige im Grunde noch schlimmer, wenigstens weit un- biegsamer und hartnäckiger waren, als jene offenbare Sunder und Heyden; so dünkten sich doch diese Heuchler viel zu heilig zu seyn, als daß ein Zöllner und Sünder sich unterstehen dürfte, mit ihnen zu re- den. Sie hätten geglaubt, verunreinigt zu werden, wenn ihnen ein solcher Mensch zu nahe gekommen wäre, oder wenn sie mit einem Heyden hätten essen sollen; ja sie bildeten sich ein, ein jeder rechtschaffener Mann müsse eben so denken, wie sie. Es war ihnen daher sehr auffallend und anstößig, daß Jesus mit solchen Personen, die in einem übeln Rufe standen, die man als allgemein bekannte Sünder, dergleichen die Zolleinnehmer waren, ansahe, umgieng, daß er mit ihnen sprach, ihnen Unterricht ertheilte, sie unter die Zahl seiner Schüler aufnahm, und wohl gar mit ihnen speiste, wenn sie ihn zu ihren Gastmählern einluden. Sie meynten, er vergäbe der Ehre Got- tes und seines Volks zu viel, er mache die Gesetze und Tugend verächtlich, wenn er mit solchen Leuten um- *) Luc. 15, 1-2. L
XXV. Betrachtung. und habe deswegen oft von den Phariſäern bittereund ſpöttiſche Vorwürfe anhören müſſen. So hieß es z. B. Es nahten ſich allerley Zöllner und Sünder zu ihm, daß ſie ihn hörten, und die Phariſäer murr- ten und ſprachen: dieſer nimmt die Sünder an und iſſet mit ihnen.*) Denn obgleich dieſe Scheinhei- lige im Grunde noch ſchlimmer, wenigſtens weit un- biegſamer und hartnäckiger waren, als jene offenbare Sunder und Heyden; ſo dünkten ſich doch dieſe Heuchler viel zu heilig zu ſeyn, als daß ein Zöllner und Sünder ſich unterſtehen dürfte, mit ihnen zu re- den. Sie hätten geglaubt, verunreinigt zu werden, wenn ihnen ein ſolcher Menſch zu nahe gekommen wäre, oder wenn ſie mit einem Heyden hätten eſſen ſollen; ja ſie bildeten ſich ein, ein jeder rechtſchaffener Mann müſſe eben ſo denken, wie ſie. Es war ihnen daher ſehr auffallend und anſtößig, daß Jeſus mit ſolchen Perſonen, die in einem übeln Rufe ſtanden, die man als allgemein bekannte Sünder, dergleichen die Zolleinnehmer waren, anſahe, umgieng, daß er mit ihnen ſprach, ihnen Unterricht ertheilte, ſie unter die Zahl ſeiner Schüler aufnahm, und wohl gar mit ihnen ſpeiſte, wenn ſie ihn zu ihren Gaſtmählern einluden. Sie meynten, er vergäbe der Ehre Got- tes und ſeines Volks zu viel, er mache die Geſetze und Tugend verächtlich, wenn er mit ſolchen Leuten um- *) Luc. 15, 1-2. L
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XXV. Betrachtung.
und habe deswegen oft von den Phariſäern bittere
und ſpöttiſche Vorwürfe anhören müſſen. So hieß
es z. B. Es nahten ſich allerley Zöllner und Sünder
zu ihm, daß ſie ihn hörten, und die Phariſäer murr-
ten und ſprachen: dieſer nimmt die Sünder an und
iſſet mit ihnen. *) Denn obgleich dieſe Scheinhei-
lige im Grunde noch ſchlimmer, wenigſtens weit un-
biegſamer und hartnäckiger waren, als jene offenbare
Sunder und Heyden; ſo dünkten ſich doch dieſe
Heuchler viel zu heilig zu ſeyn, als daß ein Zöllner
und Sünder ſich unterſtehen dürfte, mit ihnen zu re-
den. Sie hätten geglaubt, verunreinigt zu werden,
wenn ihnen ein ſolcher Menſch zu nahe gekommen
wäre, oder wenn ſie mit einem Heyden hätten eſſen
ſollen; ja ſie bildeten ſich ein, ein jeder rechtſchaffener
Mann müſſe eben ſo denken, wie ſie. Es war ihnen
daher ſehr auffallend und anſtößig, daß Jeſus mit
ſolchen Perſonen, die in einem übeln Rufe ſtanden,
die man als allgemein bekannte Sünder, dergleichen
die Zolleinnehmer waren, anſahe, umgieng, daß er
mit ihnen ſprach, ihnen Unterricht ertheilte, ſie unter
die Zahl ſeiner Schüler aufnahm, und wohl gar mit
ihnen ſpeiſte, wenn ſie ihn zu ihren Gaſtmählern
einluden. Sie meynten, er vergäbe der Ehre Got-
tes und ſeines Volks zu viel, er mache die Geſetze
und Tugend verächtlich, wenn er mit ſolchen Leuten
um-
*) Luc. 15, 1-2.
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