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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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XXX. Betrachtung.
ben, um ihn zu unterdrücken. Das ganze Jüdische
Land würde ein Schauplatz der größten Verwirrun-
gen und Unordnungen geworden seyn. Durch wei-
se Zurückhaltung verhinderte es daher Jesus, daß es
nicht zu solchen gefährlichen Unruhen kam; wobey er
sich gänzlich also verhielt, wie es dem Plane der Vor-
sehung gemäß war. War es nun seine Absicht, erst
die Menschen zu belehren, den Grund zu einer bes-
sern Religion zu legen, und dann zur Erlösung und
Versöhnung des Menschengeschlechts zu sterben, so
mußte er als ein weisheitsvoller Lehrer im Anfange
etwas zurückhaltend seyn, bis die Gemüther gehörig
vorbereitet, und die Absichten seiner Sendung erfüllt
waren. Dann sagte er deutlich: ich bin Christus;
mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Aber im An-
fange seines Lehramts konnte er, ohne Gefahr seines
Lebens, sich nicht gradezu für den Meßias erklären,
zumal da er als der große Herzenskündiger wußte,
daß er von allen Seiten mit solchen Personen um-
ringt wäre, denen er wegen ihres flüchtigen Wankel-
muths nicht trauen durfte. Daher sagt auch sein
Geschichtschreiber von ihm, er vertraute sich ihnen
nicht, denn er kannte sie alle;
*) das heißt: er ent-
zog sich allem vertrauten Umgange mit widrig ge-
sinnten Personen, damit sie sich nicht vor der Zeit
an ihm vergreifen möchten. Selbst gegen seine
Schüler war er bisweilen zurückhaltend, wenigstens

ver-
*) 1 Joh. 2, 24.
N 3

XXX. Betrachtung.
ben, um ihn zu unterdrücken. Das ganze Jüdiſche
Land würde ein Schauplatz der größten Verwirrun-
gen und Unordnungen geworden ſeyn. Durch wei-
ſe Zurückhaltung verhinderte es daher Jeſus, daß es
nicht zu ſolchen gefährlichen Unruhen kam; wobey er
ſich gänzlich alſo verhielt, wie es dem Plane der Vor-
ſehung gemäß war. War es nun ſeine Abſicht, erſt
die Menſchen zu belehren, den Grund zu einer beſ-
ſern Religion zu legen, und dann zur Erlöſung und
Verſöhnung des Menſchengeſchlechts zu ſterben, ſo
mußte er als ein weisheitsvoller Lehrer im Anfange
etwas zurückhaltend ſeyn, bis die Gemüther gehörig
vorbereitet, und die Abſichten ſeiner Sendung erfüllt
waren. Dann ſagte er deutlich: ich bin Chriſtus;
mein Reich iſt nicht von dieſer Welt.
Aber im An-
fange ſeines Lehramts konnte er, ohne Gefahr ſeines
Lebens, ſich nicht gradezu für den Meßias erklären,
zumal da er als der große Herzenskündiger wußte,
daß er von allen Seiten mit ſolchen Perſonen um-
ringt wäre, denen er wegen ihres flüchtigen Wankel-
muths nicht trauen durfte. Daher ſagt auch ſein
Geſchichtſchreiber von ihm, er vertraute ſich ihnen
nicht, denn er kannte ſie alle;
*) das heißt: er ent-
zog ſich allem vertrauten Umgange mit widrig ge-
ſinnten Perſonen, damit ſie ſich nicht vor der Zeit
an ihm vergreifen möchten. Selbſt gegen ſeine
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ver-
*) 1 Joh. 2, 24.
N 3
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[197/0223] XXX. Betrachtung. ben, um ihn zu unterdrücken. Das ganze Jüdiſche Land würde ein Schauplatz der größten Verwirrun- gen und Unordnungen geworden ſeyn. Durch wei- ſe Zurückhaltung verhinderte es daher Jeſus, daß es nicht zu ſolchen gefährlichen Unruhen kam; wobey er ſich gänzlich alſo verhielt, wie es dem Plane der Vor- ſehung gemäß war. War es nun ſeine Abſicht, erſt die Menſchen zu belehren, den Grund zu einer beſ- ſern Religion zu legen, und dann zur Erlöſung und Verſöhnung des Menſchengeſchlechts zu ſterben, ſo mußte er als ein weisheitsvoller Lehrer im Anfange etwas zurückhaltend ſeyn, bis die Gemüther gehörig vorbereitet, und die Abſichten ſeiner Sendung erfüllt waren. Dann ſagte er deutlich: ich bin Chriſtus; mein Reich iſt nicht von dieſer Welt. Aber im An- fange ſeines Lehramts konnte er, ohne Gefahr ſeines Lebens, ſich nicht gradezu für den Meßias erklären, zumal da er als der große Herzenskündiger wußte, daß er von allen Seiten mit ſolchen Perſonen um- ringt wäre, denen er wegen ihres flüchtigen Wankel- muths nicht trauen durfte. Daher ſagt auch ſein Geſchichtſchreiber von ihm, er vertraute ſich ihnen nicht, denn er kannte ſie alle; *) das heißt: er ent- zog ſich allem vertrauten Umgange mit widrig ge- ſinnten Perſonen, damit ſie ſich nicht vor der Zeit an ihm vergreifen möchten. Selbſt gegen ſeine Schüler war er bisweilen zurückhaltend, wenigſtens ver- *) 1 Joh. 2, 24. N 3

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/223>, abgerufen am 21.11.2024.