Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXX. Betrachtung. sum abschickte, und ihn fragen ließ: Bist du, der dakommen soll? so gab er eine Antwort, welche auf die vorgelegte Frage, dem ersten Anscheine nach, nicht ganz zu passen schien.*) Er sagte nicht gradezu, ich bins, sondern: Gehet hin, sagt Johanni wieder, was ihr sehet und höret; die Blinden sehen, die Lah- men gehen, die Aussätzigen werden rein, und die Tauben hören, die Todten stehen auf, und den Ar- men wird das Evangelium geprediget. Für Wahr- heit liebende Gemüther war das genug, mehr aber konnte er auch unter den damaligen Umständen nicht sagen. Denn noch hatte er damals so viele Vorur- theile seiner Freunde und Feinde zu bekämpfen, daß eine ausdrücklich bejahende Antwort von den schäd- lichsten Folgen gewesen seyn würde. Er berufte sich daher nur auf Thatsachen, die lauter für ihn spra- chen, als die nachdrücklichsten Beweise. Hätte aber Jesus und seine Jünger überall öffentlich vor dem Volk darauf gedrungen, er sey der Meßias: so wür- den dadurch die gefährlichsten Unruhen im Jüdischen Lande entstanden seyn. Auf der einen Seite würde man ihm die königliche Würde angetragen haben; und wenn er sie ausgeschlagen hätte, so würde man wohl gar, unter dem Vorwande, es geschähe zu sei- nem Vortheil, einen Aufstand erregt haben. Auf der andern Seite würde man ihm weit mehr und weit früher entgegen gearbeitet, und alles aufgeboten ha- ben, *) Matth. 11, 2-6.
XXX. Betrachtung. ſum abſchickte, und ihn fragen ließ: Biſt du, der dakommen ſoll? ſo gab er eine Antwort, welche auf die vorgelegte Frage, dem erſten Anſcheine nach, nicht ganz zu paſſen ſchien.*) Er ſagte nicht gradezu, ich bins, ſondern: Gehet hin, ſagt Johanni wieder, was ihr ſehet und höret; die Blinden ſehen, die Lah- men gehen, die Ausſätzigen werden rein, und die Tauben hören, die Todten ſtehen auf, und den Ar- men wird das Evangelium geprediget. Für Wahr- heit liebende Gemüther war das genug, mehr aber konnte er auch unter den damaligen Umſtänden nicht ſagen. Denn noch hatte er damals ſo viele Vorur- theile ſeiner Freunde und Feinde zu bekämpfen, daß eine ausdrücklich bejahende Antwort von den ſchäd- lichſten Folgen geweſen ſeyn würde. Er berufte ſich daher nur auf Thatſachen, die lauter für ihn ſpra- chen, als die nachdrücklichſten Beweiſe. Hätte aber Jeſus und ſeine Jünger überall öffentlich vor dem Volk darauf gedrungen, er ſey der Meßias: ſo wür- den dadurch die gefährlichſten Unruhen im Jüdiſchen Lande entſtanden ſeyn. Auf der einen Seite würde man ihm die königliche Würde angetragen haben; und wenn er ſie ausgeſchlagen hätte, ſo würde man wohl gar, unter dem Vorwande, es geſchähe zu ſei- nem Vortheil, einen Aufſtand erregt haben. Auf der andern Seite würde man ihm weit mehr und weit früher entgegen gearbeitet, und alles aufgeboten ha- ben, *) Matth. 11, 2-6.
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XXX. Betrachtung.
ſum abſchickte, und ihn fragen ließ: Biſt du, der da
kommen ſoll? ſo gab er eine Antwort, welche auf
die vorgelegte Frage, dem erſten Anſcheine nach, nicht
ganz zu paſſen ſchien. *) Er ſagte nicht gradezu, ich
bins, ſondern: Gehet hin, ſagt Johanni wieder,
was ihr ſehet und höret; die Blinden ſehen, die Lah-
men gehen, die Ausſätzigen werden rein, und die
Tauben hören, die Todten ſtehen auf, und den Ar-
men wird das Evangelium geprediget. Für Wahr-
heit liebende Gemüther war das genug, mehr aber
konnte er auch unter den damaligen Umſtänden nicht
ſagen. Denn noch hatte er damals ſo viele Vorur-
theile ſeiner Freunde und Feinde zu bekämpfen, daß
eine ausdrücklich bejahende Antwort von den ſchäd-
lichſten Folgen geweſen ſeyn würde. Er berufte ſich
daher nur auf Thatſachen, die lauter für ihn ſpra-
chen, als die nachdrücklichſten Beweiſe. Hätte aber
Jeſus und ſeine Jünger überall öffentlich vor dem
Volk darauf gedrungen, er ſey der Meßias: ſo wür-
den dadurch die gefährlichſten Unruhen im Jüdiſchen
Lande entſtanden ſeyn. Auf der einen Seite würde
man ihm die königliche Würde angetragen haben;
und wenn er ſie ausgeſchlagen hätte, ſo würde man
wohl gar, unter dem Vorwande, es geſchähe zu ſei-
nem Vortheil, einen Aufſtand erregt haben. Auf
der andern Seite würde man ihm weit mehr und weit
früher entgegen gearbeitet, und alles aufgeboten ha-
ben,
*) Matth. 11, 2-6.
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