Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXX. Betrachtung. gen Neugierde jeden plagen, den sie sehen. Gegensolche Personen zurückhaltend seyn, ist Pflicht und der Klugheit gemäß; ja es würde unserm Verstande nicht viel Ehre machen, wenn wir alle ihre ungestü- men Fragen beantworten wollten, weil sie bald unse- re unvorsichtige Treuherzigkeit zu unserm und anderer Nachtheil mißbrauchen würden. Ereignen sich nun Fälle, wo wir sehen, daß die Entdeckung der Wahr- heit mehr Schaden als Nutzen stiftet, so laßt uns verschwiegen seyn. Diese Fälle sind aber nicht so sel- ten, als man gemeiniglich denkt, und es würde sehr nützlich seyn, wenn man aufmerksamer darauf wäre. Oft erfährt man etwas, wornach man nicht geforscht hat, und wo man nicht gebeten worden ist, daß man es verschweigen soll; und doch ist es Pflicht, es ge- heim zu halten, wenn man sich auch gleich nicht dazu anheischig gemacht hat, so bald zu vermuthen steht, daß es dem Nächsten schädlich seyn würde, wenn man das bekannt machte, was man von ihm gehört hat. Wäre es auch dein Feind, so bist du doch schuldig, ihn zu schonen, gesetzt auch, er hätte zu deinem Nach- theil manches bekannt gemacht, was er aus christli- cher Liebe hätte verschweigen sollen. Nie mußt du also, mein Christ, die dir bekannten Geheimnisse dei- nes Nächsten verrathen, wenn du auch gleich die Gunst und Zuneigung anderer erwerben, wenn du auch gleich dadurch dein Glück auf eine ansehnliche Weise N 4
XXX. Betrachtung. gen Neugierde jeden plagen, den ſie ſehen. Gegenſolche Perſonen zurückhaltend ſeyn, iſt Pflicht und der Klugheit gemäß; ja es würde unſerm Verſtande nicht viel Ehre machen, wenn wir alle ihre ungeſtü- men Fragen beantworten wollten, weil ſie bald unſe- re unvorſichtige Treuherzigkeit zu unſerm und anderer Nachtheil mißbrauchen würden. Ereignen ſich nun Fälle, wo wir ſehen, daß die Entdeckung der Wahr- heit mehr Schaden als Nutzen ſtiftet, ſo laßt uns verſchwiegen ſeyn. Dieſe Fälle ſind aber nicht ſo ſel- ten, als man gemeiniglich denkt, und es würde ſehr nützlich ſeyn, wenn man aufmerkſamer darauf wäre. Oft erfährt man etwas, wornach man nicht geforſcht hat, und wo man nicht gebeten worden iſt, daß man es verſchweigen ſoll; und doch iſt es Pflicht, es ge- heim zu halten, wenn man ſich auch gleich nicht dazu anheiſchig gemacht hat, ſo bald zu vermuthen ſteht, daß es dem Nächſten ſchädlich ſeyn würde, wenn man das bekannt machte, was man von ihm gehört hat. Wäre es auch dein Feind, ſo biſt du doch ſchuldig, ihn zu ſchonen, geſetzt auch, er hätte zu deinem Nach- theil manches bekannt gemacht, was er aus chriſtli- cher Liebe hätte verſchweigen ſollen. Nie mußt du alſo, mein Chriſt, die dir bekannten Geheimniſſe dei- nes Nächſten verrathen, wenn du auch gleich die Gunſt und Zuneigung anderer erwerben, wenn du auch gleich dadurch dein Glück auf eine anſehnliche Weiſe N 4
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XXX. Betrachtung.
gen Neugierde jeden plagen, den ſie ſehen. Gegen
ſolche Perſonen zurückhaltend ſeyn, iſt Pflicht und
der Klugheit gemäß; ja es würde unſerm Verſtande
nicht viel Ehre machen, wenn wir alle ihre ungeſtü-
men Fragen beantworten wollten, weil ſie bald unſe-
re unvorſichtige Treuherzigkeit zu unſerm und anderer
Nachtheil mißbrauchen würden. Ereignen ſich nun
Fälle, wo wir ſehen, daß die Entdeckung der Wahr-
heit mehr Schaden als Nutzen ſtiftet, ſo laßt uns
verſchwiegen ſeyn. Dieſe Fälle ſind aber nicht ſo ſel-
ten, als man gemeiniglich denkt, und es würde ſehr
nützlich ſeyn, wenn man aufmerkſamer darauf wäre.
Oft erfährt man etwas, wornach man nicht geforſcht
hat, und wo man nicht gebeten worden iſt, daß man
es verſchweigen ſoll; und doch iſt es Pflicht, es ge-
heim zu halten, wenn man ſich auch gleich nicht dazu
anheiſchig gemacht hat, ſo bald zu vermuthen ſteht,
daß es dem Nächſten ſchädlich ſeyn würde, wenn man
das bekannt machte, was man von ihm gehört hat.
Wäre es auch dein Feind, ſo biſt du doch ſchuldig,
ihn zu ſchonen, geſetzt auch, er hätte zu deinem Nach-
theil manches bekannt gemacht, was er aus chriſtli-
cher Liebe hätte verſchweigen ſollen. Nie mußt du
alſo, mein Chriſt, die dir bekannten Geheimniſſe dei-
nes Nächſten verrathen, wenn du auch gleich die
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auch gleich dadurch dein Glück auf eine anſehnliche
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