Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XXXVI. Betrachtung.
ge Tage früher in die Gewalt seiner Feinde gekom-
men wäre; da es über dieses wahrscheinlich ist, Je-
sus werde seinen Schülern in den letzten Tagen noch
so manches andre lehrreiche gesagt haben, das uns
nicht ist aufgezeichnet worden. So wenig nun Je-
sus Ursache hatte, sich ein längeres Leben zu wün-
schen, da sein Leben in mancher Rücksicht ganz freu-
denleer war, und da er keine günstigern Schicksale
hier in der Welt zu erwarten hatte, so suchte er es
doch mit der größten Sorgfalt zu erhalten, und noch
jeden Augenblick zu nutzen, um das ganz zu erfüllen,
was er ehemals sagte: Jch muß wirken die Werke
des, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist, ehe
die Nacht kommt, wo Niemand wirken kann
*) Je-
sus liebte also sein Leben, und suchte es so lange als
möglich zu erhalten, nicht aus Eigennutz und aus
überwiegendem Hange zum Jrdischen, sondern aus
Pflicht und aus Gehorsam gegen Gott. Aber er
gab es auch mit williger Entschlossenheit und mit
großer Selbstverleugnung hin, so bald der Zeitpunkt
kam, wo er durch Aufopferung seines Lebens den
höchsten Beweis der Gottes- und Menschenliebe ab-
legen sollte. Denn daran haben wir erkannt die
Liebe, daß er sein Leben für uns gelassen hat, und
wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.
**)

Nun auch mir soll mein Leben theuer seyn, so
wie dem Erlöser das seinige werth war. Denn ich

sehe
*) Joh. 9, 4.
**) Joh. 3, 16.

XXXVI. Betrachtung.
ge Tage früher in die Gewalt ſeiner Feinde gekom-
men wäre; da es über dieſes wahrſcheinlich iſt, Je-
ſus werde ſeinen Schülern in den letzten Tagen noch
ſo manches andre lehrreiche geſagt haben, das uns
nicht iſt aufgezeichnet worden. So wenig nun Je-
ſus Urſache hatte, ſich ein längeres Leben zu wün-
ſchen, da ſein Leben in mancher Rückſicht ganz freu-
denleer war, und da er keine günſtigern Schickſale
hier in der Welt zu erwarten hatte, ſo ſuchte er es
doch mit der größten Sorgfalt zu erhalten, und noch
jeden Augenblick zu nutzen, um das ganz zu erfüllen,
was er ehemals ſagte: Jch muß wirken die Werke
des, der mich geſandt hat, ſo lange es Tag iſt, ehe
die Nacht kommt, wo Niemand wirken kann
*) Je-
ſus liebte alſo ſein Leben, und ſuchte es ſo lange als
möglich zu erhalten, nicht aus Eigennutz und aus
überwiegendem Hange zum Jrdiſchen, ſondern aus
Pflicht und aus Gehorſam gegen Gott. Aber er
gab es auch mit williger Entſchloſſenheit und mit
großer Selbſtverleugnung hin, ſo bald der Zeitpunkt
kam, wo er durch Aufopferung ſeines Lebens den
höchſten Beweis der Gottes- und Menſchenliebe ab-
legen ſollte. Denn daran haben wir erkannt die
Liebe, daß er ſein Leben für uns gelaſſen hat, und
wir ſollen auch das Leben für die Brüder laſſen.
**)

Nun auch mir ſoll mein Leben theuer ſeyn, ſo
wie dem Erlöſer das ſeinige werth war. Denn ich

ſehe
*) Joh. 9, 4.
**) Joh. 3, 16.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0264" n="238"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXXVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
ge Tage früher in die Gewalt &#x017F;einer Feinde gekom-<lb/>
men wäre; da es über die&#x017F;es wahr&#x017F;cheinlich i&#x017F;t, Je-<lb/>
&#x017F;us werde &#x017F;einen Schülern in den letzten Tagen noch<lb/>
&#x017F;o manches andre lehrreiche ge&#x017F;agt haben, das uns<lb/>
nicht i&#x017F;t aufgezeichnet worden. So wenig nun Je-<lb/>
&#x017F;us Ur&#x017F;ache hatte, &#x017F;ich ein längeres Leben zu wün-<lb/>
&#x017F;chen, da &#x017F;ein Leben in mancher Rück&#x017F;icht ganz freu-<lb/>
denleer war, und da er keine gün&#x017F;tigern Schick&#x017F;ale<lb/>
hier in der Welt zu erwarten hatte, &#x017F;o &#x017F;uchte er es<lb/>
doch mit der größten Sorgfalt zu erhalten, und noch<lb/>
jeden Augenblick zu nutzen, um das ganz zu erfüllen,<lb/>
was er ehemals &#x017F;agte: <hi rendition="#fr">Jch muß wirken die Werke<lb/>
des, der mich ge&#x017F;andt hat, &#x017F;o lange es Tag i&#x017F;t, ehe<lb/>
die Nacht kommt, wo Niemand wirken kann</hi><note place="foot" n="*)">Joh. 9, 4.</note> Je-<lb/>
&#x017F;us liebte al&#x017F;o &#x017F;ein Leben, und &#x017F;uchte es &#x017F;o lange als<lb/>
möglich zu erhalten, nicht aus Eigennutz und aus<lb/>
überwiegendem Hange zum Jrdi&#x017F;chen, &#x017F;ondern aus<lb/>
Pflicht und aus Gehor&#x017F;am gegen Gott. Aber er<lb/>
gab es auch mit williger Ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit und mit<lb/>
großer Selb&#x017F;tverleugnung hin, &#x017F;o bald der Zeitpunkt<lb/>
kam, wo er durch Aufopferung &#x017F;eines Lebens den<lb/>
höch&#x017F;ten Beweis der Gottes- und Men&#x017F;chenliebe ab-<lb/>
legen &#x017F;ollte. Denn <hi rendition="#fr">daran haben wir erkannt die<lb/>
Liebe, daß er &#x017F;ein Leben für uns gela&#x017F;&#x017F;en hat, und<lb/>
wir &#x017F;ollen auch das Leben für die Brüder la&#x017F;&#x017F;en.</hi><note place="foot" n="**)">Joh. 3, 16.</note></p><lb/>
          <p>Nun auch mir &#x017F;oll mein Leben theuer &#x017F;eyn, &#x017F;o<lb/>
wie dem Erlö&#x017F;er das &#x017F;einige werth war. Denn ich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ehe</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0264] XXXVI. Betrachtung. ge Tage früher in die Gewalt ſeiner Feinde gekom- men wäre; da es über dieſes wahrſcheinlich iſt, Je- ſus werde ſeinen Schülern in den letzten Tagen noch ſo manches andre lehrreiche geſagt haben, das uns nicht iſt aufgezeichnet worden. So wenig nun Je- ſus Urſache hatte, ſich ein längeres Leben zu wün- ſchen, da ſein Leben in mancher Rückſicht ganz freu- denleer war, und da er keine günſtigern Schickſale hier in der Welt zu erwarten hatte, ſo ſuchte er es doch mit der größten Sorgfalt zu erhalten, und noch jeden Augenblick zu nutzen, um das ganz zu erfüllen, was er ehemals ſagte: Jch muß wirken die Werke des, der mich geſandt hat, ſo lange es Tag iſt, ehe die Nacht kommt, wo Niemand wirken kann *) Je- ſus liebte alſo ſein Leben, und ſuchte es ſo lange als möglich zu erhalten, nicht aus Eigennutz und aus überwiegendem Hange zum Jrdiſchen, ſondern aus Pflicht und aus Gehorſam gegen Gott. Aber er gab es auch mit williger Entſchloſſenheit und mit großer Selbſtverleugnung hin, ſo bald der Zeitpunkt kam, wo er durch Aufopferung ſeines Lebens den höchſten Beweis der Gottes- und Menſchenliebe ab- legen ſollte. Denn daran haben wir erkannt die Liebe, daß er ſein Leben für uns gelaſſen hat, und wir ſollen auch das Leben für die Brüder laſſen. **) Nun auch mir ſoll mein Leben theuer ſeyn, ſo wie dem Erlöſer das ſeinige werth war. Denn ich ſehe *) Joh. 9, 4. **) Joh. 3, 16.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/264
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/264>, abgerufen am 22.11.2024.