Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XLIV. Betrachtung. zu seinem Amte gehörte. Jhm war es genug, derUnglücklichen eine gute Lehre zu geben: gehe hin, sündige hinfort nicht mehr;*) weiter that er nichts. Er verurtheilte sie nicht, sprach sie aber auch von der obrigkeitlichen Strafe nicht loß, weil keins von bey- den ihm zukam, und weil er keinen Eingrif in die Rechte der Obrigkeit thun wollte. Als ferner ein Mann, der mit seinem Bruder wegen Theilung des gemeinschaftlichen Erbguths in Streitigkeit lebte, ihn bat, Meister, sage meinem Bruder, daß er mit mir das Erbe theile;**) so wollte er sich nicht zum Schiedsrichter und Vermittler brauchen lassen. Wahrscheinlich glaubte dieser Mann, das Ansehn eines so großen Lehrers, wie Jesus war, würde bey seinem Bruder viel vermögen und ihn dahin bringen, daß er mit ihm das Erbgut theile, welches er bisher vermuthlich aus Geiz und Eigennutz nicht hatte thun wollen. Allein Jesus wußte, daß zur Beylegung sol- cher Streitigkeiten ordentliche Richter da waren; er sahe, daß die ganze Sache nur den äußern Wohl- stand der streitenden Partheyen angieng, auf ihr geist- liches Wohl aber weiter keinen Einfluß hatte, darum wies er diesen Antrag zurück und sprach: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbtheiler gesetzt?***) alles, was er bey dieser Gelegenheit that, war, daß er die Umstehenden bey dieser Veranlassung vor dem Geiz *) Joh. 8, 1-11. **) Luc. 12, 13. ***) Luc. 12, 14.
XLIV. Betrachtung. zu ſeinem Amte gehörte. Jhm war es genug, derUnglücklichen eine gute Lehre zu geben: gehe hin, ſündige hinfort nicht mehr;*) weiter that er nichts. Er verurtheilte ſie nicht, ſprach ſie aber auch von der obrigkeitlichen Strafe nicht loß, weil keins von bey- den ihm zukam, und weil er keinen Eingrif in die Rechte der Obrigkeit thun wollte. Als ferner ein Mann, der mit ſeinem Bruder wegen Theilung des gemeinſchaftlichen Erbguths in Streitigkeit lebte, ihn bat, Meiſter, ſage meinem Bruder, daß er mit mir das Erbe theile;**) ſo wollte er ſich nicht zum Schiedsrichter und Vermittler brauchen laſſen. Wahrſcheinlich glaubte dieſer Mann, das Anſehn eines ſo großen Lehrers, wie Jeſus war, würde bey ſeinem Bruder viel vermögen und ihn dahin bringen, daß er mit ihm das Erbgut theile, welches er bisher vermuthlich aus Geiz und Eigennutz nicht hatte thun wollen. Allein Jeſus wußte, daß zur Beylegung ſol- cher Streitigkeiten ordentliche Richter da waren; er ſahe, daß die ganze Sache nur den äußern Wohl- ſtand der ſtreitenden Partheyen angieng, auf ihr geiſt- liches Wohl aber weiter keinen Einfluß hatte, darum wies er dieſen Antrag zurück und ſprach: Menſch, wer hat mich zum Richter oder Erbtheiler geſetzt?***) alles, was er bey dieſer Gelegenheit that, war, daß er die Umſtehenden bey dieſer Veranlaſſung vor dem Geiz *) Joh. 8, 1-11. **) Luc. 12, 13. ***) Luc. 12, 14.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0313" n="287"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XLIV.</hi> Betrachtung.</fw><lb/> zu ſeinem Amte gehörte. Jhm war es genug, der<lb/> Unglücklichen eine gute Lehre zu geben: <hi rendition="#fr">gehe hin,<lb/> ſündige hinfort nicht mehr;</hi><note place="foot" n="*)">Joh. 8, 1-11.</note> weiter that er nichts.<lb/> Er verurtheilte ſie nicht, ſprach ſie aber auch von der<lb/> obrigkeitlichen Strafe nicht loß, weil keins von bey-<lb/> den ihm zukam, und weil er keinen Eingrif in die<lb/> Rechte der Obrigkeit thun wollte. Als ferner ein<lb/> Mann, der mit ſeinem Bruder wegen Theilung des<lb/> gemeinſchaftlichen Erbguths in Streitigkeit lebte, ihn<lb/> bat, <hi rendition="#fr">Meiſter, ſage meinem Bruder, daß er mit mir<lb/> das Erbe theile;</hi><note place="foot" n="**)">Luc. 12, 13.</note> ſo wollte er ſich nicht zum<lb/> Schiedsrichter und Vermittler brauchen laſſen.<lb/> Wahrſcheinlich glaubte dieſer Mann, das Anſehn<lb/> eines ſo großen Lehrers, wie Jeſus war, würde bey<lb/> ſeinem Bruder viel vermögen und ihn dahin bringen,<lb/> daß er mit ihm das Erbgut theile, welches er bisher<lb/> vermuthlich aus Geiz und Eigennutz nicht hatte thun<lb/> wollen. Allein Jeſus wußte, daß zur Beylegung ſol-<lb/> cher Streitigkeiten ordentliche Richter da waren; er<lb/> ſahe, daß die ganze Sache nur den äußern Wohl-<lb/> ſtand der ſtreitenden Partheyen angieng, auf ihr geiſt-<lb/> liches Wohl aber weiter keinen Einfluß hatte, darum<lb/> wies er dieſen Antrag zurück und ſprach: <hi rendition="#fr">Menſch,<lb/> wer hat mich zum Richter oder Erbtheiler geſetzt?</hi><note place="foot" n="***)">Luc. 12, 14.</note><lb/> alles, was er bey dieſer Gelegenheit that, war, daß<lb/> er die Umſtehenden bey dieſer Veranlaſſung vor dem<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Geiz</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [287/0313]
XLIV. Betrachtung.
zu ſeinem Amte gehörte. Jhm war es genug, der
Unglücklichen eine gute Lehre zu geben: gehe hin,
ſündige hinfort nicht mehr; *) weiter that er nichts.
Er verurtheilte ſie nicht, ſprach ſie aber auch von der
obrigkeitlichen Strafe nicht loß, weil keins von bey-
den ihm zukam, und weil er keinen Eingrif in die
Rechte der Obrigkeit thun wollte. Als ferner ein
Mann, der mit ſeinem Bruder wegen Theilung des
gemeinſchaftlichen Erbguths in Streitigkeit lebte, ihn
bat, Meiſter, ſage meinem Bruder, daß er mit mir
das Erbe theile; **) ſo wollte er ſich nicht zum
Schiedsrichter und Vermittler brauchen laſſen.
Wahrſcheinlich glaubte dieſer Mann, das Anſehn
eines ſo großen Lehrers, wie Jeſus war, würde bey
ſeinem Bruder viel vermögen und ihn dahin bringen,
daß er mit ihm das Erbgut theile, welches er bisher
vermuthlich aus Geiz und Eigennutz nicht hatte thun
wollen. Allein Jeſus wußte, daß zur Beylegung ſol-
cher Streitigkeiten ordentliche Richter da waren; er
ſahe, daß die ganze Sache nur den äußern Wohl-
ſtand der ſtreitenden Partheyen angieng, auf ihr geiſt-
liches Wohl aber weiter keinen Einfluß hatte, darum
wies er dieſen Antrag zurück und ſprach: Menſch,
wer hat mich zum Richter oder Erbtheiler geſetzt? ***)
alles, was er bey dieſer Gelegenheit that, war, daß
er die Umſtehenden bey dieſer Veranlaſſung vor dem
Geiz
*) Joh. 8, 1-11.
**) Luc. 12, 13.
***) Luc. 12, 14.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/313 |
Zitationshilfe: | Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/313>, abgerufen am 16.07.2024. |