lichste Beyspiel der Tugend zu geben, dergleichen sie nöthig hatten, wenn sie fromm leben wollten.
Wichtig ist aber das Beyspiel Jesu schon um deswillen, weil es ganz fehlerfrey, und von allen Seiten untadelhaft ist. Man mag sein Verhalten so strenge prüfen, als man nur will: so wird man doch keine Sünde, keine Schwachheit, keine unlaute- re Absicht, keinen niedrigen Bewegungsgrund, keine Nachläßigkeit und Trägheit im Guten an ihm gewahr werden. Hätte sich Jesus auch nur eine Sünde er- laubt, so würden seine Feinde, die ihn überall scharf beobachteten und beobachten ließen, sie gewiß ent- deckt, und ihm vorgeworfen haben. Allein sie muß- ten nur zu erdichteten Beschuldigungen ihre Zuflucht nehmen, und er konnte sie immer mit edler Dreistig- keit und mit vollem Bewußtseyn seiner Unschuld fra- gen: wer kann mich einer Sünde zeihen?*) Hätte Jesus nur einen Fehler begangen, nur an einem Ver- brechen Antheil genommen: so würde es sein treulo- ser Schüler, Judas, gewiß entdeckt haben, um we- nigstens dadurch seine schändliche That einigermaßen zu rechtfertigen. Allein er konnte nichts verdächti- ges anführen, er mußte vielmehr, von den Vorwür- fen eines aufgewachten Gewissens gefoltert, das für Jesum so ehrenvolle Bekenntniß ablegen: ich habe unschuldig Blut verrathen.**) Sein Betragen war
also
*) Joh. 8, 46.
**) Matth. 27, 4.
A 5
II. Betrachtung.
lichſte Beyſpiel der Tugend zu geben, dergleichen ſie nöthig hatten, wenn ſie fromm leben wollten.
Wichtig iſt aber das Beyſpiel Jeſu ſchon um deswillen, weil es ganz fehlerfrey, und von allen Seiten untadelhaft iſt. Man mag ſein Verhalten ſo ſtrenge prüfen, als man nur will: ſo wird man doch keine Sünde, keine Schwachheit, keine unlaute- re Abſicht, keinen niedrigen Bewegungsgrund, keine Nachläßigkeit und Trägheit im Guten an ihm gewahr werden. Hätte ſich Jeſus auch nur eine Sünde er- laubt, ſo würden ſeine Feinde, die ihn überall ſcharf beobachteten und beobachten ließen, ſie gewiß ent- deckt, und ihm vorgeworfen haben. Allein ſie muß- ten nur zu erdichteten Beſchuldigungen ihre Zuflucht nehmen, und er konnte ſie immer mit edler Dreiſtig- keit und mit vollem Bewußtſeyn ſeiner Unſchuld fra- gen: wer kann mich einer Sünde zeihen?*) Hätte Jeſus nur einen Fehler begangen, nur an einem Ver- brechen Antheil genommen: ſo würde es ſein treulo- ſer Schüler, Judas, gewiß entdeckt haben, um we- nigſtens dadurch ſeine ſchändliche That einigermaßen zu rechtfertigen. Allein er konnte nichts verdächti- ges anführen, er mußte vielmehr, von den Vorwür- fen eines aufgewachten Gewiſſens gefoltert, das für Jeſum ſo ehrenvolle Bekenntniß ablegen: ich habe unſchuldig Blut verrathen.**) Sein Betragen war
alſo
*) Joh. 8, 46.
**) Matth. 27, 4.
A 5
<TEI><text><front><divtype="preface"><divn="2"><p><pbfacs="#f0035"n="9"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
lichſte Beyſpiel der Tugend zu geben, dergleichen ſie<lb/>
nöthig hatten, wenn ſie fromm leben wollten.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Wichtig</hi> iſt aber das Beyſpiel Jeſu ſchon um<lb/>
deswillen, weil es <hirendition="#fr">ganz fehlerfrey,</hi> und von allen<lb/><hirendition="#fr">Seiten untadelhaft</hi> iſt. Man mag ſein Verhalten<lb/>ſo ſtrenge prüfen, als man nur will: ſo wird man<lb/>
doch keine Sünde, keine Schwachheit, keine unlaute-<lb/>
re Abſicht, keinen niedrigen Bewegungsgrund, keine<lb/>
Nachläßigkeit und Trägheit im Guten an ihm gewahr<lb/>
werden. Hätte ſich Jeſus auch nur <hirendition="#fr">eine</hi> Sünde er-<lb/>
laubt, ſo würden ſeine Feinde, die ihn überall ſcharf<lb/>
beobachteten und beobachten ließen, ſie gewiß ent-<lb/>
deckt, und ihm vorgeworfen haben. Allein ſie muß-<lb/>
ten nur zu erdichteten Beſchuldigungen ihre Zuflucht<lb/>
nehmen, und er konnte ſie immer mit edler Dreiſtig-<lb/>
keit und mit vollem Bewußtſeyn ſeiner Unſchuld fra-<lb/>
gen: <hirendition="#fr">wer kann mich einer Sünde zeihen?</hi><noteplace="foot"n="*)">Joh. 8, 46.</note> Hätte<lb/>
Jeſus nur <hirendition="#fr">einen</hi> Fehler begangen, nur an einem Ver-<lb/>
brechen Antheil genommen: ſo würde es ſein treulo-<lb/>ſer Schüler, Judas, gewiß entdeckt haben, um we-<lb/>
nigſtens dadurch ſeine ſchändliche That einigermaßen<lb/>
zu rechtfertigen. Allein er konnte nichts verdächti-<lb/>
ges anführen, er mußte vielmehr, von den Vorwür-<lb/>
fen eines aufgewachten Gewiſſens gefoltert, das für<lb/>
Jeſum ſo ehrenvolle Bekenntniß ablegen: <hirendition="#fr">ich habe<lb/>
unſchuldig Blut verrathen.</hi><noteplace="foot"n="**)">Matth. 27, 4.</note> Sein Betragen war<lb/><fwplace="bottom"type="sig">A 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">alſo</fw><lb/></p></div></div></front></text></TEI>
[9/0035]
II. Betrachtung.
lichſte Beyſpiel der Tugend zu geben, dergleichen ſie
nöthig hatten, wenn ſie fromm leben wollten.
Wichtig iſt aber das Beyſpiel Jeſu ſchon um
deswillen, weil es ganz fehlerfrey, und von allen
Seiten untadelhaft iſt. Man mag ſein Verhalten
ſo ſtrenge prüfen, als man nur will: ſo wird man
doch keine Sünde, keine Schwachheit, keine unlaute-
re Abſicht, keinen niedrigen Bewegungsgrund, keine
Nachläßigkeit und Trägheit im Guten an ihm gewahr
werden. Hätte ſich Jeſus auch nur eine Sünde er-
laubt, ſo würden ſeine Feinde, die ihn überall ſcharf
beobachteten und beobachten ließen, ſie gewiß ent-
deckt, und ihm vorgeworfen haben. Allein ſie muß-
ten nur zu erdichteten Beſchuldigungen ihre Zuflucht
nehmen, und er konnte ſie immer mit edler Dreiſtig-
keit und mit vollem Bewußtſeyn ſeiner Unſchuld fra-
gen: wer kann mich einer Sünde zeihen? *) Hätte
Jeſus nur einen Fehler begangen, nur an einem Ver-
brechen Antheil genommen: ſo würde es ſein treulo-
ſer Schüler, Judas, gewiß entdeckt haben, um we-
nigſtens dadurch ſeine ſchändliche That einigermaßen
zu rechtfertigen. Allein er konnte nichts verdächti-
ges anführen, er mußte vielmehr, von den Vorwür-
fen eines aufgewachten Gewiſſens gefoltert, das für
Jeſum ſo ehrenvolle Bekenntniß ablegen: ich habe
unſchuldig Blut verrathen. **) Sein Betragen war
alſo
*) Joh. 8, 46.
**) Matth. 27, 4.
A 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/35>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.