Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.LXVIII. Betrachtung. von Gott, von der Religion und von meiner Bestim-mung so geurtheilt, wie er? oder richtete ich mich nach der Meynung des großen Haufens der Men- schen, der doch immer nur ein sehr unsicherer Führer ist? Sahe ich bey meinem Thun und Lassen, wie er, nicht blos auf das Sichtbare und auf das Gegenwär- tige, sondern vielmehr aufs Unsichtbare und Zukünf- tige? War ich so gemeinnützig, wie Jesus, der nur für andre lebte, ihnen alle seine Dienste widmete, ih- nen seine Ruhe, seine Ehre und selbst sein Leben auf- opferte? War mein Ohr stets, wie das seinige, dem Geschrey der Armen und dem Klagen der Elenden ge- öfnet? gab ich so gerne und so willig, wie er, so bald ich geben konnte? Hab ich in meinem Stande und Berufe recht viel Gutes gestiftet, und das Werk, welches mir Gott besonders auftrug, eben so eifrig und uneigennützig betrieben, wie er das seinige betrieb. Hat mich das Bekenntniß und die Ausübung des thä- tigen Christenthums recht glücklich gemacht, hat es in mir die Zufriedenheit und Gemüthsruhe gewirkt, die ich an Jesu so oft bewundere? War ich von al- len den niedrigen, sündlichen Leidenschaften des Gei- zes, des Stolzes, des Neides und der Eitelkeit frey, von denen man an Jesu nicht die geringste Spur wahrnimmt? Belebte mich, so wie ihn, ein herzli- ches Wohlwollen gegen alle Menschen, freute ich mich über ihr Glück, und nahm ich einen brüderlichen Antheil
LXVIII. Betrachtung. von Gott, von der Religion und von meiner Beſtim-mung ſo geurtheilt, wie er? oder richtete ich mich nach der Meynung des großen Haufens der Men- ſchen, der doch immer nur ein ſehr unſicherer Führer iſt? Sahe ich bey meinem Thun und Laſſen, wie er, nicht blos auf das Sichtbare und auf das Gegenwär- tige, ſondern vielmehr aufs Unſichtbare und Zukünf- tige? War ich ſo gemeinnützig, wie Jeſus, der nur für andre lebte, ihnen alle ſeine Dienſte widmete, ih- nen ſeine Ruhe, ſeine Ehre und ſelbſt ſein Leben auf- opferte? War mein Ohr ſtets, wie das ſeinige, dem Geſchrey der Armen und dem Klagen der Elenden ge- öfnet? gab ich ſo gerne und ſo willig, wie er, ſo bald ich geben konnte? Hab ich in meinem Stande und Berufe recht viel Gutes geſtiftet, und das Werk, welches mir Gott beſonders auftrug, eben ſo eifrig und uneigennützig betrieben, wie er das ſeinige betrieb. Hat mich das Bekenntniß und die Ausübung des thä- tigen Chriſtenthums recht glücklich gemacht, hat es in mir die Zufriedenheit und Gemüthsruhe gewirkt, die ich an Jeſu ſo oft bewundere? War ich von al- len den niedrigen, ſündlichen Leidenſchaften des Gei- zes, des Stolzes, des Neides und der Eitelkeit frey, von denen man an Jeſu nicht die geringſte Spur wahrnimmt? Belebte mich, ſo wie ihn, ein herzli- ches Wohlwollen gegen alle Menſchen, freute ich mich über ihr Glück, und nahm ich einen brüderlichen Antheil
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LXVIII. Betrachtung.
von Gott, von der Religion und von meiner Beſtim-
mung ſo geurtheilt, wie er? oder richtete ich mich
nach der Meynung des großen Haufens der Men-
ſchen, der doch immer nur ein ſehr unſicherer Führer
iſt? Sahe ich bey meinem Thun und Laſſen, wie er,
nicht blos auf das Sichtbare und auf das Gegenwär-
tige, ſondern vielmehr aufs Unſichtbare und Zukünf-
tige? War ich ſo gemeinnützig, wie Jeſus, der nur
für andre lebte, ihnen alle ſeine Dienſte widmete, ih-
nen ſeine Ruhe, ſeine Ehre und ſelbſt ſein Leben auf-
opferte? War mein Ohr ſtets, wie das ſeinige, dem
Geſchrey der Armen und dem Klagen der Elenden ge-
öfnet? gab ich ſo gerne und ſo willig, wie er, ſo bald
ich geben konnte? Hab ich in meinem Stande und
Berufe recht viel Gutes geſtiftet, und das Werk,
welches mir Gott beſonders auftrug, eben ſo eifrig
und uneigennützig betrieben, wie er das ſeinige betrieb.
Hat mich das Bekenntniß und die Ausübung des thä-
tigen Chriſtenthums recht glücklich gemacht, hat es
in mir die Zufriedenheit und Gemüthsruhe gewirkt,
die ich an Jeſu ſo oft bewundere? War ich von al-
len den niedrigen, ſündlichen Leidenſchaften des Gei-
zes, des Stolzes, des Neides und der Eitelkeit frey,
von denen man an Jeſu nicht die geringſte Spur
wahrnimmt? Belebte mich, ſo wie ihn, ein herzli-
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