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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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VII. Betrachtung.
dazu haben. Ja selbst in solchen Fällen, wo es Pflicht
für uns ist, Andern ihre Vergehungen vorzuhalten,
auch da dürfen wir es nicht auf eine beleidigende Art
thun, sondern mit möglichster Schonung, und mit
dem sanftmüthigen Geiste, mit welchem Jesus sonst
Lasterhafte zu bessern und zu gewinnen suchte.

Zu dem Eigenthümlichen in dem Beyspiele Je-
su, das nicht nachgeahmet werden kann, gehören vors
Zweyte alle die Handlungen, die zu seinem Mitt-
leramte gehören und darauf Beziehung haben.

Er lebte unter den Menschen als Lehrer; aber nicht
jeder Christ ist dazu bestimmt, andere zu unterrichten,
und keiner darf sich eigenmächtig zum Lehrer anderer
aufwerfen. Jesus starb freywillig für die Menschen,
um sie von den Strafen der Sünden zu erlösen, um
sie mit Gott auszusöhnen; aber wir können auf eine
solche Art und aus einer solchen Absicht für andre nicht
sterben. Jesus lebte in einer freywilligen Armuth und
im ehelosen Stande; allein es würde Schwärmerey
seyn, wenn wir ihn hierinne nachahmen und dabey
glauben wollten, wir würden Gott dadurch wohlge-
fälliger werden. Denn weder freywillige Armuth noch
Ehelosigkeit können dem Menschen einen Werth ge-
ben, wenn er sonst keine Vorzüge und Verdienste hat;
und man wird leicht einsehen, daß die Gelübde der
freywilligen Armuth und Ehelosigkeit, so wie die ganze
schiefe Mönchsmoral, aus einer falschen und mißver-
standenen Nachahmung Jesu entsprungen sind. Je-

sus

VII. Betrachtung.
dazu haben. Ja ſelbſt in ſolchen Fällen, wo es Pflicht
für uns iſt, Andern ihre Vergehungen vorzuhalten,
auch da dürfen wir es nicht auf eine beleidigende Art
thun, ſondern mit möglichſter Schonung, und mit
dem ſanftmüthigen Geiſte, mit welchem Jeſus ſonſt
Laſterhafte zu beſſern und zu gewinnen ſuchte.

Zu dem Eigenthümlichen in dem Beyſpiele Je-
ſu, das nicht nachgeahmet werden kann, gehören vors
Zweyte alle die Handlungen, die zu ſeinem Mitt-
leramte gehören und darauf Beziehung haben.

Er lebte unter den Menſchen als Lehrer; aber nicht
jeder Chriſt iſt dazu beſtimmt, andere zu unterrichten,
und keiner darf ſich eigenmächtig zum Lehrer anderer
aufwerfen. Jeſus ſtarb freywillig für die Menſchen,
um ſie von den Strafen der Sünden zu erlöſen, um
ſie mit Gott auszuſöhnen; aber wir können auf eine
ſolche Art und aus einer ſolchen Abſicht für andre nicht
ſterben. Jeſus lebte in einer freywilligen Armuth und
im eheloſen Stande; allein es würde Schwärmerey
ſeyn, wenn wir ihn hierinne nachahmen und dabey
glauben wollten, wir würden Gott dadurch wohlge-
fälliger werden. Denn weder freywillige Armuth noch
Eheloſigkeit können dem Menſchen einen Werth ge-
ben, wenn er ſonſt keine Vorzüge und Verdienſte hat;
und man wird leicht einſehen, daß die Gelübde der
freywilligen Armuth und Eheloſigkeit, ſo wie die ganze
ſchiefe Mönchsmoral, aus einer falſchen und mißver-
ſtandenen Nachahmung Jeſu entſprungen ſind. Je-

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[38/0064] VII. Betrachtung. dazu haben. Ja ſelbſt in ſolchen Fällen, wo es Pflicht für uns iſt, Andern ihre Vergehungen vorzuhalten, auch da dürfen wir es nicht auf eine beleidigende Art thun, ſondern mit möglichſter Schonung, und mit dem ſanftmüthigen Geiſte, mit welchem Jeſus ſonſt Laſterhafte zu beſſern und zu gewinnen ſuchte. Zu dem Eigenthümlichen in dem Beyſpiele Je- ſu, das nicht nachgeahmet werden kann, gehören vors Zweyte alle die Handlungen, die zu ſeinem Mitt- leramte gehören und darauf Beziehung haben. Er lebte unter den Menſchen als Lehrer; aber nicht jeder Chriſt iſt dazu beſtimmt, andere zu unterrichten, und keiner darf ſich eigenmächtig zum Lehrer anderer aufwerfen. Jeſus ſtarb freywillig für die Menſchen, um ſie von den Strafen der Sünden zu erlöſen, um ſie mit Gott auszuſöhnen; aber wir können auf eine ſolche Art und aus einer ſolchen Abſicht für andre nicht ſterben. Jeſus lebte in einer freywilligen Armuth und im eheloſen Stande; allein es würde Schwärmerey ſeyn, wenn wir ihn hierinne nachahmen und dabey glauben wollten, wir würden Gott dadurch wohlge- fälliger werden. Denn weder freywillige Armuth noch Eheloſigkeit können dem Menſchen einen Werth ge- ben, wenn er ſonſt keine Vorzüge und Verdienſte hat; und man wird leicht einſehen, daß die Gelübde der freywilligen Armuth und Eheloſigkeit, ſo wie die ganze ſchiefe Mönchsmoral, aus einer falſchen und mißver- ſtandenen Nachahmung Jeſu entſprungen ſind. Je- ſus

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/64>, abgerufen am 24.11.2024.