Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XI. Betrachtung.
ner Feinde ausweichen, und so ihre menschenfeindli-
chen Plane vereiteln können, wenn er nur diesmal
von Jerusalem weggeblieben wäre, und sich, wie
sonst, in dem entferntern Galiläa aufgehalten hätte;
oder wenn er sich des Ansehns hätte bedienen wollen,
in welchem er bey einem großen Theile des Volks
stund, das mit seinen Vorgesetzten unzufrieden war,
und das ihn wahrscheinlich gegen alle Beleidigungen
würde geschützt haben. Allein er wußte auch, daß
er zum Glück und Segen der Menschen war in die
Welt gekommen; er wußte, daß er durch Leiden und
Tod die Menschen erlösen und versöhnen sollte, dar-
um gieng er auch dieser harten Prüfung mit willi-
ger Entschlossenheit entgegen. Er konnte in Bezie-
hung auf seine höhere Würde sagen: Niemand nimmt
mein Leben von mir; sondern ich lasse es von mir
selber, ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht,
es wieder zu nehmen.
*) Allein er wußte auch, daß
er sterben, daß sein Tod dem ganzen menschlichen
Geschlechte die größten Vortheile bringen, daß sein
Tod der Trost, die Beruhigung und das Leben der
Welt seyn sollte. Darum scheute er keine Leiden,
darum fürchtete er keine Aufopferung. Er that al-
les, und litt alles, was er thun und leiden sollte;
er war gehorsam bis zum Tode, ja bis zum schmach-
vollsten Tode am Kreuz. Daher heißt es auch von

ihm:
*) Joh. 10, 18.

XI. Betrachtung.
ner Feinde ausweichen, und ſo ihre menſchenfeindli-
chen Plane vereiteln können, wenn er nur diesmal
von Jeruſalem weggeblieben wäre, und ſich, wie
ſonſt, in dem entferntern Galiläa aufgehalten hätte;
oder wenn er ſich des Anſehns hätte bedienen wollen,
in welchem er bey einem großen Theile des Volks
ſtund, das mit ſeinen Vorgeſetzten unzufrieden war,
und das ihn wahrſcheinlich gegen alle Beleidigungen
würde geſchützt haben. Allein er wußte auch, daß
er zum Glück und Segen der Menſchen war in die
Welt gekommen; er wußte, daß er durch Leiden und
Tod die Menſchen erlöſen und verſöhnen ſollte, dar-
um gieng er auch dieſer harten Prüfung mit willi-
ger Entſchloſſenheit entgegen. Er konnte in Bezie-
hung auf ſeine höhere Würde ſagen: Niemand nimmt
mein Leben von mir; ſondern ich laſſe es von mir
ſelber, ich habe Macht, es zu laſſen, und habe Macht,
es wieder zu nehmen.
*) Allein er wußte auch, daß
er ſterben, daß ſein Tod dem ganzen menſchlichen
Geſchlechte die größten Vortheile bringen, daß ſein
Tod der Troſt, die Beruhigung und das Leben der
Welt ſeyn ſollte. Darum ſcheute er keine Leiden,
darum fürchtete er keine Aufopferung. Er that al-
les, und litt alles, was er thun und leiden ſollte;
er war gehorſam bis zum Tode, ja bis zum ſchmach-
vollſten Tode am Kreuz. Daher heißt es auch von

ihm:
*) Joh. 10, 18.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0092" n="66"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
ner Feinde ausweichen, und &#x017F;o ihre men&#x017F;chenfeindli-<lb/>
chen Plane vereiteln können, wenn er nur diesmal<lb/>
von Jeru&#x017F;alem weggeblieben wäre, und &#x017F;ich, wie<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t, in dem entferntern Galiläa aufgehalten hätte;<lb/>
oder wenn er &#x017F;ich des An&#x017F;ehns hätte bedienen wollen,<lb/>
in welchem er bey einem großen Theile des Volks<lb/>
&#x017F;tund, das mit &#x017F;einen Vorge&#x017F;etzten unzufrieden war,<lb/>
und das ihn wahr&#x017F;cheinlich gegen alle Beleidigungen<lb/>
würde ge&#x017F;chützt haben. Allein er wußte auch, daß<lb/>
er zum Glück und Segen der Men&#x017F;chen war in die<lb/>
Welt gekommen; er wußte, daß er durch Leiden und<lb/>
Tod die Men&#x017F;chen erlö&#x017F;en und ver&#x017F;öhnen &#x017F;ollte, dar-<lb/>
um gieng er auch die&#x017F;er harten Prüfung mit willi-<lb/>
ger Ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit entgegen. Er konnte in Bezie-<lb/>
hung auf &#x017F;eine höhere Würde &#x017F;agen: <hi rendition="#fr">Niemand nimmt<lb/>
mein Leben von mir; &#x017F;ondern ich la&#x017F;&#x017F;e es von mir<lb/>
&#x017F;elber, ich habe Macht, es zu la&#x017F;&#x017F;en, und habe Macht,<lb/>
es wieder zu nehmen.</hi><note place="foot" n="*)">Joh. 10, 18.</note> Allein er wußte auch, daß<lb/>
er &#x017F;terben, daß &#x017F;ein Tod dem ganzen men&#x017F;chlichen<lb/>
Ge&#x017F;chlechte die größten Vortheile bringen, daß &#x017F;ein<lb/>
Tod der Tro&#x017F;t, die Beruhigung und das Leben der<lb/>
Welt &#x017F;eyn &#x017F;ollte. Darum &#x017F;cheute er keine Leiden,<lb/>
darum fürchtete er keine Aufopferung. Er that al-<lb/>
les, und litt alles, was er thun und leiden &#x017F;ollte;<lb/>
er war gehor&#x017F;am bis zum Tode, ja bis zum &#x017F;chmach-<lb/>
voll&#x017F;ten Tode am Kreuz. Daher heißt es auch von<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihm:</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0092] XI. Betrachtung. ner Feinde ausweichen, und ſo ihre menſchenfeindli- chen Plane vereiteln können, wenn er nur diesmal von Jeruſalem weggeblieben wäre, und ſich, wie ſonſt, in dem entferntern Galiläa aufgehalten hätte; oder wenn er ſich des Anſehns hätte bedienen wollen, in welchem er bey einem großen Theile des Volks ſtund, das mit ſeinen Vorgeſetzten unzufrieden war, und das ihn wahrſcheinlich gegen alle Beleidigungen würde geſchützt haben. Allein er wußte auch, daß er zum Glück und Segen der Menſchen war in die Welt gekommen; er wußte, daß er durch Leiden und Tod die Menſchen erlöſen und verſöhnen ſollte, dar- um gieng er auch dieſer harten Prüfung mit willi- ger Entſchloſſenheit entgegen. Er konnte in Bezie- hung auf ſeine höhere Würde ſagen: Niemand nimmt mein Leben von mir; ſondern ich laſſe es von mir ſelber, ich habe Macht, es zu laſſen, und habe Macht, es wieder zu nehmen. *) Allein er wußte auch, daß er ſterben, daß ſein Tod dem ganzen menſchlichen Geſchlechte die größten Vortheile bringen, daß ſein Tod der Troſt, die Beruhigung und das Leben der Welt ſeyn ſollte. Darum ſcheute er keine Leiden, darum fürchtete er keine Aufopferung. Er that al- les, und litt alles, was er thun und leiden ſollte; er war gehorſam bis zum Tode, ja bis zum ſchmach- vollſten Tode am Kreuz. Daher heißt es auch von ihm: *) Joh. 10, 18.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/92
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/92>, abgerufen am 21.11.2024.