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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Kunstsammlungen, ihre Geschichte und ihre Bestimmung.
sie mit viel Mühe, aber immer schwankendem Erfolge die
Namen, Wahrzeichen und Geschäfte der neun Jungfrauen sich
einzuprägen versucht haben, so kann man zu ihrer Beruhigung
sagen, daß diese weibliche Akademie der Künste und Wissen¬
schaften in verhältnißmäßig später Zeit entstanden, von Ge¬
lehrten gemacht ist und daß sie nicht im Volksbewußtsein der
Hellenen wurzelt. Dem Volke waren die Musen Naturgeister,
Nymphen, welche an Quellen und Flüssen zu Hause waren.
Denn die Quelle, welche durch den dürren Felsen bricht, war
dem Hellenen die edelste Gottesgabe, und er kannte keinen
ansprechenderen Aufenthalt, als die kühle Felsgrotte, in wel¬
cher das Wasser sich sammelt. War nun ein Quell auf ein¬
samem Berghaupte entsprungen, erschien er um so mehr als
ein besonderer Segen, als ein Wunder der Gnade. Die
frische Bergluft, das Rauschen der Wälder erhöhte den wohl¬
thuenden Eindruck und rief eine freudig erhobene Stimmung
hervor, welche die Grundbedingung poetischer Hervorbringung
ist. So erhielten die Quellen den Ruhm begeisternder Kraft,
so wurden die Nymphen zu Musen und einzelne Bergquellen
zu hervorragenden Stätten des Musendienstes. Es entstand
das Heiligthum der pierischen Musen am Olympos, der Mu¬
senhain am Helikon, wo die Hippokrene durch den Hufschlag
des Flügelpferdes geöffnet sein sollte. Die wilde Bergland¬
schaft erhielt durch die Hand der Kunst Reiz und Bedeutung.
Es wurden Altäre gegründet und Versammlungsplätze für die
Festgenossen eingerichtet. Weihgeschenke wurden im Schatten
der Bäume aufgestellt und Bilder der Musen sowie der in
den Wettkämpfen bewährten Künstler. Denn in diesen Mu¬
senheiligthümern kamen diejenigen zusammen, welche sich der
Kunst widmeten. Hier wurden die Sangesweisen ausgebildet,
die Instrumente erfunden und vervollkommnet. Meister der
Dichtkunst thaten sich hervor, Schulen bildeten sich, in denen
nach zünftiger Weise gewisse Kunstrichtungen gepflegt wurden;
so am Olympos eine orphische Schule, am Helikon eine Schule
des Hesiodos. Man pflegte die Ueberlieferung, man sammelte
Urkunden über Kunstweisen und Künstler, und wie um alle

Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.
ſie mit viel Mühe, aber immer ſchwankendem Erfolge die
Namen, Wahrzeichen und Geſchäfte der neun Jungfrauen ſich
einzuprägen verſucht haben, ſo kann man zu ihrer Beruhigung
ſagen, daß dieſe weibliche Akademie der Künſte und Wiſſen¬
ſchaften in verhältnißmäßig ſpäter Zeit entſtanden, von Ge¬
lehrten gemacht iſt und daß ſie nicht im Volksbewußtſein der
Hellenen wurzelt. Dem Volke waren die Muſen Naturgeiſter,
Nymphen, welche an Quellen und Flüſſen zu Hauſe waren.
Denn die Quelle, welche durch den dürren Felſen bricht, war
dem Hellenen die edelſte Gottesgabe, und er kannte keinen
anſprechenderen Aufenthalt, als die kühle Felsgrotte, in wel¬
cher das Waſſer ſich ſammelt. War nun ein Quell auf ein¬
ſamem Berghaupte entſprungen, erſchien er um ſo mehr als
ein beſonderer Segen, als ein Wunder der Gnade. Die
friſche Bergluft, das Rauſchen der Wälder erhöhte den wohl¬
thuenden Eindruck und rief eine freudig erhobene Stimmung
hervor, welche die Grundbedingung poetiſcher Hervorbringung
iſt. So erhielten die Quellen den Ruhm begeiſternder Kraft,
ſo wurden die Nymphen zu Muſen und einzelne Bergquellen
zu hervorragenden Stätten des Muſendienſtes. Es entſtand
das Heiligthum der pieriſchen Muſen am Olympos, der Mu¬
ſenhain am Helikon, wo die Hippokrene durch den Hufſchlag
des Flügelpferdes geöffnet ſein ſollte. Die wilde Bergland¬
ſchaft erhielt durch die Hand der Kunſt Reiz und Bedeutung.
Es wurden Altäre gegründet und Verſammlungsplätze für die
Feſtgenoſſen eingerichtet. Weihgeſchenke wurden im Schatten
der Bäume aufgeſtellt und Bilder der Muſen ſowie der in
den Wettkämpfen bewährten Künſtler. Denn in dieſen Mu¬
ſenheiligthümern kamen diejenigen zuſammen, welche ſich der
Kunſt widmeten. Hier wurden die Sangesweiſen ausgebildet,
die Inſtrumente erfunden und vervollkommnet. Meiſter der
Dichtkunſt thaten ſich hervor, Schulen bildeten ſich, in denen
nach zünftiger Weiſe gewiſſe Kunſtrichtungen gepflegt wurden;
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des Heſiodos. Man pflegte die Ueberlieferung, man ſammelte
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[95/0111] Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. ſie mit viel Mühe, aber immer ſchwankendem Erfolge die Namen, Wahrzeichen und Geſchäfte der neun Jungfrauen ſich einzuprägen verſucht haben, ſo kann man zu ihrer Beruhigung ſagen, daß dieſe weibliche Akademie der Künſte und Wiſſen¬ ſchaften in verhältnißmäßig ſpäter Zeit entſtanden, von Ge¬ lehrten gemacht iſt und daß ſie nicht im Volksbewußtſein der Hellenen wurzelt. Dem Volke waren die Muſen Naturgeiſter, Nymphen, welche an Quellen und Flüſſen zu Hauſe waren. Denn die Quelle, welche durch den dürren Felſen bricht, war dem Hellenen die edelſte Gottesgabe, und er kannte keinen anſprechenderen Aufenthalt, als die kühle Felsgrotte, in wel¬ cher das Waſſer ſich ſammelt. War nun ein Quell auf ein¬ ſamem Berghaupte entſprungen, erſchien er um ſo mehr als ein beſonderer Segen, als ein Wunder der Gnade. Die friſche Bergluft, das Rauſchen der Wälder erhöhte den wohl¬ thuenden Eindruck und rief eine freudig erhobene Stimmung hervor, welche die Grundbedingung poetiſcher Hervorbringung iſt. So erhielten die Quellen den Ruhm begeiſternder Kraft, ſo wurden die Nymphen zu Muſen und einzelne Bergquellen zu hervorragenden Stätten des Muſendienſtes. Es entſtand das Heiligthum der pieriſchen Muſen am Olympos, der Mu¬ ſenhain am Helikon, wo die Hippokrene durch den Hufſchlag des Flügelpferdes geöffnet ſein ſollte. Die wilde Bergland¬ ſchaft erhielt durch die Hand der Kunſt Reiz und Bedeutung. Es wurden Altäre gegründet und Verſammlungsplätze für die Feſtgenoſſen eingerichtet. Weihgeſchenke wurden im Schatten der Bäume aufgeſtellt und Bilder der Muſen ſowie der in den Wettkämpfen bewährten Künſtler. Denn in dieſen Mu¬ ſenheiligthümern kamen diejenigen zuſammen, welche ſich der Kunſt widmeten. Hier wurden die Sangesweiſen ausgebildet, die Inſtrumente erfunden und vervollkommnet. Meiſter der Dichtkunſt thaten ſich hervor, Schulen bildeten ſich, in denen nach zünftiger Weiſe gewiſſe Kunſtrichtungen gepflegt wurden; ſo am Olympos eine orphiſche Schule, am Helikon eine Schule des Heſiodos. Man pflegte die Ueberlieferung, man ſammelte Urkunden über Kunſtweiſen und Künſtler, und wie um alle

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/111>, abgerufen am 28.11.2024.