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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der Wettkampf.
so fahren sie westwärts von Küste zu Küste, um die jenseitigen
Bruderstämme zu erwecken und zum Wettkampfe aufzurufen.
Zunächst sind sie die Gebenden. Sie bringen Schrift und
Maß, sie lehren neue Götter kennen und verehren, sie lehren
Städte bauen und Staaten gründen. Aber während des Em¬
pfangens erstarken die Binnenvölker; ein Stamm nach dem
andern unter ihnen erhebt sich, und so wie sie aus den engen
Bergkantonen hervortretend mit dem Meere in Berührung
kommen, gewinnen sie Namen und Bedeutung. Nun drängen
sie die jenseitigen Stämme bei Seite, nun gründen sie eigene
Staaten -- achäische, äolische, dorische -- und je mehr diese
Staaten in Städten ihren Mittelpunkt finden, um so bestimmter
prägt sich der Stämme Eigenthümlichkeit in Verfassung, Kunst
und Sitte aus, um so lebhafter entbrennt der große Wett¬
kampf. Denn nun bilden sich nicht nur die Hauptunterschiede
aus, die des dorischen und ionischen Wesens, sondern auch
innerhalb der Stämme beginnt der Städte Wettkampf, nament¬
lich bei den Ioniern, welche nur in der mannigfaltigsten Ent¬
wickelung ihre Befriedigung finden.

Blicken Sie auf die Küste Kleinasiens! Auf einem Raume,
welchen man mit heutiger Geschwindigkeit in kurzer Tages¬
fahrt durchmessen könnte, erheben sich zwölf Städte neben ein¬
ander und jede Stadt ist eine Welt für sich. Niemals ist so
viel Geschichte wieder auf so engem Raum zusammengedrängt
gewesen, niemals in regem Wetteifer der Kräfte so viel Energie
entfaltet worden. Jede Stadt sucht ihren Beruf. Die eine
ist landeinwärts gerichtet; sie ist beschäftigt den Binnenhandel
an sich zu ziehen, die reichen Flußthäler auszubeuten, Lydien
und Hellas zu verbinden. Die anderen Städte sind ganz der
See zugekehrt, unter einander wetteifernd unbekannte Meere
zu durchschiffen, neue Länder und Völker, neue Schätze der
Erde zu entdecken. Milet dringt durch die Pforten des Pontus;
aus dem Schleier nordischer Nebel zieht es die unermeßlichen
Kornebenen Scythiens, während es zugleich die Wunder des
Nillandes aufschließt; den fernen Westen entdecken die kühnen
Seefahrer aus Samos und Phokaia, die ebensowohl Kriegs¬

Der Wettkampf.
ſo fahren ſie weſtwärts von Küſte zu Küſte, um die jenſeitigen
Bruderſtämme zu erwecken und zum Wettkampfe aufzurufen.
Zunächſt ſind ſie die Gebenden. Sie bringen Schrift und
Maß, ſie lehren neue Götter kennen und verehren, ſie lehren
Städte bauen und Staaten gründen. Aber während des Em¬
pfangens erſtarken die Binnenvölker; ein Stamm nach dem
andern unter ihnen erhebt ſich, und ſo wie ſie aus den engen
Bergkantonen hervortretend mit dem Meere in Berührung
kommen, gewinnen ſie Namen und Bedeutung. Nun drängen
ſie die jenſeitigen Stämme bei Seite, nun gründen ſie eigene
Staaten — achäiſche, äoliſche, doriſche — und je mehr dieſe
Staaten in Städten ihren Mittelpunkt finden, um ſo beſtimmter
prägt ſich der Stämme Eigenthümlichkeit in Verfaſſung, Kunſt
und Sitte aus, um ſo lebhafter entbrennt der große Wett¬
kampf. Denn nun bilden ſich nicht nur die Hauptunterſchiede
aus, die des doriſchen und ioniſchen Weſens, ſondern auch
innerhalb der Stämme beginnt der Städte Wettkampf, nament¬
lich bei den Ioniern, welche nur in der mannigfaltigſten Ent¬
wickelung ihre Befriedigung finden.

Blicken Sie auf die Küſte Kleinaſiens! Auf einem Raume,
welchen man mit heutiger Geſchwindigkeit in kurzer Tages¬
fahrt durchmeſſen könnte, erheben ſich zwölf Städte neben ein¬
ander und jede Stadt iſt eine Welt für ſich. Niemals iſt ſo
viel Geſchichte wieder auf ſo engem Raum zuſammengedrängt
geweſen, niemals in regem Wetteifer der Kräfte ſo viel Energie
entfaltet worden. Jede Stadt ſucht ihren Beruf. Die eine
iſt landeinwärts gerichtet; ſie iſt beſchäftigt den Binnenhandel
an ſich zu ziehen, die reichen Flußthäler auszubeuten, Lydien
und Hellas zu verbinden. Die anderen Städte ſind ganz der
See zugekehrt, unter einander wetteifernd unbekannte Meere
zu durchſchiffen, neue Länder und Völker, neue Schätze der
Erde zu entdecken. Milet dringt durch die Pforten des Pontus;
aus dem Schleier nordiſcher Nebel zieht es die unermeßlichen
Kornebenen Scythiens, während es zugleich die Wunder des
Nillandes aufſchließt; den fernen Weſten entdecken die kühnen
Seefahrer aus Samos und Phokaia, die ebenſowohl Kriegs¬

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[135/0151] Der Wettkampf. ſo fahren ſie weſtwärts von Küſte zu Küſte, um die jenſeitigen Bruderſtämme zu erwecken und zum Wettkampfe aufzurufen. Zunächſt ſind ſie die Gebenden. Sie bringen Schrift und Maß, ſie lehren neue Götter kennen und verehren, ſie lehren Städte bauen und Staaten gründen. Aber während des Em¬ pfangens erſtarken die Binnenvölker; ein Stamm nach dem andern unter ihnen erhebt ſich, und ſo wie ſie aus den engen Bergkantonen hervortretend mit dem Meere in Berührung kommen, gewinnen ſie Namen und Bedeutung. Nun drängen ſie die jenſeitigen Stämme bei Seite, nun gründen ſie eigene Staaten — achäiſche, äoliſche, doriſche — und je mehr dieſe Staaten in Städten ihren Mittelpunkt finden, um ſo beſtimmter prägt ſich der Stämme Eigenthümlichkeit in Verfaſſung, Kunſt und Sitte aus, um ſo lebhafter entbrennt der große Wett¬ kampf. Denn nun bilden ſich nicht nur die Hauptunterſchiede aus, die des doriſchen und ioniſchen Weſens, ſondern auch innerhalb der Stämme beginnt der Städte Wettkampf, nament¬ lich bei den Ioniern, welche nur in der mannigfaltigſten Ent¬ wickelung ihre Befriedigung finden. Blicken Sie auf die Küſte Kleinaſiens! Auf einem Raume, welchen man mit heutiger Geſchwindigkeit in kurzer Tages¬ fahrt durchmeſſen könnte, erheben ſich zwölf Städte neben ein¬ ander und jede Stadt iſt eine Welt für ſich. Niemals iſt ſo viel Geſchichte wieder auf ſo engem Raum zuſammengedrängt geweſen, niemals in regem Wetteifer der Kräfte ſo viel Energie entfaltet worden. Jede Stadt ſucht ihren Beruf. Die eine iſt landeinwärts gerichtet; ſie iſt beſchäftigt den Binnenhandel an ſich zu ziehen, die reichen Flußthäler auszubeuten, Lydien und Hellas zu verbinden. Die anderen Städte ſind ganz der See zugekehrt, unter einander wetteifernd unbekannte Meere zu durchſchiffen, neue Länder und Völker, neue Schätze der Erde zu entdecken. Milet dringt durch die Pforten des Pontus; aus dem Schleier nordiſcher Nebel zieht es die unermeßlichen Kornebenen Scythiens, während es zugleich die Wunder des Nillandes aufſchließt; den fernen Weſten entdecken die kühnen Seefahrer aus Samos und Phokaia, die ebenſowohl Kriegs¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/151>, abgerufen am 17.05.2024.