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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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X.
Die Unfreiheit der alten Welt.

Wir bewundern den Erfindungsgeist des menschlichen Ge¬
schlechts, welches unablässig geschäftig ist, sein angeborenes
Vermögen zu steigern, alle Beschränkungen zu beseitigen und
seinen Wirkungskreis nach allen Seiten auszudehnen. Wie
das Kind zum reifen Manne, so verhält sich der natürliche
Mensch zu dem, der die Geheimnisse der Schöpfung ergründet
und ihre Kräfte sich dienstbar gemacht hat, der in seinem Be¬
wußtsein alles Wichtige vereinigt, was je auf Erden erdacht
und erfunden worden ist, der sein Machtgebiet so erweitert,
daß sein Blick und seine Gedanken durch alle Fernen der Zeit
und des Raumes reichen.

Diesem Eroberungszuge des menschlichen Geistes folgen
wir mit Bewunderung durch die Jahrhunderte der Geschichte;
aber noch überraschender ist es, wenn wir den Erfindungsgeist
des Menschen in entgegengesetzter Richtung thätig sehen, indem
er, statt neue Wirkungskreise zu gewinnen, die ihm von Natur
versagt sind, sich vielmehr da beschränkt, wo er zur vollen
Herrschaft den natürlichen Beruf hat. Das ist das Gebiet
der sittlichen Freiheit. Sie ist die Grundkraft seines Wesens,
die Quelle jeder höheren Lebensfreude, das Theuerste und
Eigenste, was der Mensch besitzt. Darum sollten wir denken,
daß zu allen Zeiten kein Gut höher geschätzt und eifriger ge¬

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X.
Die Unfreiheit der alten Welt.

Wir bewundern den Erfindungsgeiſt des menſchlichen Ge¬
ſchlechts, welches unabläſſig geſchäftig iſt, ſein angeborenes
Vermögen zu ſteigern, alle Beſchränkungen zu beſeitigen und
ſeinen Wirkungskreis nach allen Seiten auszudehnen. Wie
das Kind zum reifen Manne, ſo verhält ſich der natürliche
Menſch zu dem, der die Geheimniſſe der Schöpfung ergründet
und ihre Kräfte ſich dienſtbar gemacht hat, der in ſeinem Be¬
wußtſein alles Wichtige vereinigt, was je auf Erden erdacht
und erfunden worden iſt, der ſein Machtgebiet ſo erweitert,
daß ſein Blick und ſeine Gedanken durch alle Fernen der Zeit
und des Raumes reichen.

Dieſem Eroberungszuge des menſchlichen Geiſtes folgen
wir mit Bewunderung durch die Jahrhunderte der Geſchichte;
aber noch überraſchender iſt es, wenn wir den Erfindungsgeiſt
des Menſchen in entgegengeſetzter Richtung thätig ſehen, indem
er, ſtatt neue Wirkungskreiſe zu gewinnen, die ihm von Natur
verſagt ſind, ſich vielmehr da beſchränkt, wo er zur vollen
Herrſchaft den natürlichen Beruf hat. Das iſt das Gebiet
der ſittlichen Freiheit. Sie iſt die Grundkraft ſeines Weſens,
die Quelle jeder höheren Lebensfreude, das Theuerſte und
Eigenſte, was der Menſch beſitzt. Darum ſollten wir denken,
daß zu allen Zeiten kein Gut höher geſchätzt und eifriger ge¬

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[0179] X. Die Unfreiheit der alten Welt. Wir bewundern den Erfindungsgeiſt des menſchlichen Ge¬ ſchlechts, welches unabläſſig geſchäftig iſt, ſein angeborenes Vermögen zu ſteigern, alle Beſchränkungen zu beſeitigen und ſeinen Wirkungskreis nach allen Seiten auszudehnen. Wie das Kind zum reifen Manne, ſo verhält ſich der natürliche Menſch zu dem, der die Geheimniſſe der Schöpfung ergründet und ihre Kräfte ſich dienſtbar gemacht hat, der in ſeinem Be¬ wußtſein alles Wichtige vereinigt, was je auf Erden erdacht und erfunden worden iſt, der ſein Machtgebiet ſo erweitert, daß ſein Blick und ſeine Gedanken durch alle Fernen der Zeit und des Raumes reichen. Dieſem Eroberungszuge des menſchlichen Geiſtes folgen wir mit Bewunderung durch die Jahrhunderte der Geſchichte; aber noch überraſchender iſt es, wenn wir den Erfindungsgeiſt des Menſchen in entgegengeſetzter Richtung thätig ſehen, indem er, ſtatt neue Wirkungskreiſe zu gewinnen, die ihm von Natur verſagt ſind, ſich vielmehr da beſchränkt, wo er zur vollen Herrſchaft den natürlichen Beruf hat. Das iſt das Gebiet der ſittlichen Freiheit. Sie iſt die Grundkraft ſeines Weſens, die Quelle jeder höheren Lebensfreude, das Theuerſte und Eigenſte, was der Menſch beſitzt. Darum ſollten wir denken, daß zu allen Zeiten kein Gut höher geſchätzt und eifriger ge¬ 11 *

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/179>, abgerufen am 04.12.2024.