ständigkeit und Klarheit des bürgerlichen Lebens nicht zu er¬ heben vermocht.
Anders verhielt es sich mit Athen. Athen hing mit großer Pietät an Delphi und sorgte gewissenhaft für einen ununter¬ brochenen Verkehr mit dem Heiligthume. Es war ja der geistige Herd des gemeinsamen Volksthums und mit der Liebe zu ihm wurden alle Tugenden gepflegt, welche den Hellenen vom Barbaren unterschieden. Athen verehrte den Sitz des Apollon als oberste Autorität in allen Fragen des heiligen Rechts; es war mit ihm durch regelmäßige Gesandtschaften verbunden, und es gab daselbst eigene von Delphi bestätigte Beamte, die mit der Auslegung der pythischen Sprüche und Satzungen betraut waren. Aber man wußte den delphischen Einfluß auf das religiöse Gebiet zu beschränken und sich im öffentlichen Leben von allen auswärtigen Einwirkungen frei zu machen, namentlich seit den Perserkriegen, da Delphi der Volkssache untreu wurde. Mit der Besiegung des Orients wurde auch auf geistigem Gebiete jeder Ueberrest von Unfrei¬ heit beseitigt, jede priesterliche Bevormundung aufgehoben. Mit ungehemmter Thatkraft gab man sich dem klar erkannten Berufe der Stadt hin und machte Athen statt Delphi zum geistigen Mittelpunkte der Hellenen.
Aber so wie Athen von diesem Höhenpunkte seiner sitt¬ lichen Kraft herunterstieg, so wie das klare Bewußtsein des Staats sich verdunkelte, wie seine Politik unsicher, seine Unter¬ nehmungen maßlos und darum unglücklich wurden, da gewannen auch die dunkeln Mächte wieder Gewalt über die Gemüther. Schon im sicilischen Kriege offenbarten sich die unheilvollen Einflüsse geistiger Befangenheit, und der Aberglaube, welcher nur in untern Kreisen sein Wesen heimlich fortgetrieben hatte, trat ungescheut hervor. Orakelkrämer und Zeichendeuter wurden in der Stadt des Perikles mächtig, ausländische Gottesdienste drangen ein, Traumbücher gingen von Hand zu Hand, die Astrologen des Morgenlandes beherrschten die Gemüther und dem Chaldäer Berosos errichtete man Standbilder als einem Wohlthäter des Volks. Was half den Athenern die gepriesene
Die Unfreiheit der alten Welt.
ſtändigkeit und Klarheit des bürgerlichen Lebens nicht zu er¬ heben vermocht.
Anders verhielt es ſich mit Athen. Athen hing mit großer Pietät an Delphi und ſorgte gewiſſenhaft für einen ununter¬ brochenen Verkehr mit dem Heiligthume. Es war ja der geiſtige Herd des gemeinſamen Volksthums und mit der Liebe zu ihm wurden alle Tugenden gepflegt, welche den Hellenen vom Barbaren unterſchieden. Athen verehrte den Sitz des Apollon als oberſte Autorität in allen Fragen des heiligen Rechts; es war mit ihm durch regelmäßige Geſandtſchaften verbunden, und es gab daſelbſt eigene von Delphi beſtätigte Beamte, die mit der Auslegung der pythiſchen Sprüche und Satzungen betraut waren. Aber man wußte den delphiſchen Einfluß auf das religiöſe Gebiet zu beſchränken und ſich im öffentlichen Leben von allen auswärtigen Einwirkungen frei zu machen, namentlich ſeit den Perſerkriegen, da Delphi der Volksſache untreu wurde. Mit der Beſiegung des Orients wurde auch auf geiſtigem Gebiete jeder Ueberreſt von Unfrei¬ heit beſeitigt, jede prieſterliche Bevormundung aufgehoben. Mit ungehemmter Thatkraft gab man ſich dem klar erkannten Berufe der Stadt hin und machte Athen ſtatt Delphi zum geiſtigen Mittelpunkte der Hellenen.
Aber ſo wie Athen von dieſem Höhenpunkte ſeiner ſitt¬ lichen Kraft herunterſtieg, ſo wie das klare Bewußtſein des Staats ſich verdunkelte, wie ſeine Politik unſicher, ſeine Unter¬ nehmungen maßlos und darum unglücklich wurden, da gewannen auch die dunkeln Mächte wieder Gewalt über die Gemüther. Schon im ſiciliſchen Kriege offenbarten ſich die unheilvollen Einflüſſe geiſtiger Befangenheit, und der Aberglaube, welcher nur in untern Kreiſen ſein Weſen heimlich fortgetrieben hatte, trat ungeſcheut hervor. Orakelkrämer und Zeichendeuter wurden in der Stadt des Perikles mächtig, ausländiſche Gottesdienſte drangen ein, Traumbücher gingen von Hand zu Hand, die Aſtrologen des Morgenlandes beherrſchten die Gemüther und dem Chaldäer Beroſos errichtete man Standbilder als einem Wohlthäter des Volks. Was half den Athenern die geprieſene
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Die Unfreiheit der alten Welt.
ſtändigkeit und Klarheit des bürgerlichen Lebens nicht zu er¬
heben vermocht.
Anders verhielt es ſich mit Athen. Athen hing mit großer
Pietät an Delphi und ſorgte gewiſſenhaft für einen ununter¬
brochenen Verkehr mit dem Heiligthume. Es war ja der
geiſtige Herd des gemeinſamen Volksthums und mit der Liebe
zu ihm wurden alle Tugenden gepflegt, welche den Hellenen
vom Barbaren unterſchieden. Athen verehrte den Sitz des
Apollon als oberſte Autorität in allen Fragen des heiligen
Rechts; es war mit ihm durch regelmäßige Geſandtſchaften
verbunden, und es gab daſelbſt eigene von Delphi beſtätigte
Beamte, die mit der Auslegung der pythiſchen Sprüche und
Satzungen betraut waren. Aber man wußte den delphiſchen
Einfluß auf das religiöſe Gebiet zu beſchränken und ſich im
öffentlichen Leben von allen auswärtigen Einwirkungen frei
zu machen, namentlich ſeit den Perſerkriegen, da Delphi der
Volksſache untreu wurde. Mit der Beſiegung des Orients
wurde auch auf geiſtigem Gebiete jeder Ueberreſt von Unfrei¬
heit beſeitigt, jede prieſterliche Bevormundung aufgehoben.
Mit ungehemmter Thatkraft gab man ſich dem klar erkannten
Berufe der Stadt hin und machte Athen ſtatt Delphi zum
geiſtigen Mittelpunkte der Hellenen.
Aber ſo wie Athen von dieſem Höhenpunkte ſeiner ſitt¬
lichen Kraft herunterſtieg, ſo wie das klare Bewußtſein des
Staats ſich verdunkelte, wie ſeine Politik unſicher, ſeine Unter¬
nehmungen maßlos und darum unglücklich wurden, da gewannen
auch die dunkeln Mächte wieder Gewalt über die Gemüther.
Schon im ſiciliſchen Kriege offenbarten ſich die unheilvollen
Einflüſſe geiſtiger Befangenheit, und der Aberglaube, welcher
nur in untern Kreiſen ſein Weſen heimlich fortgetrieben hatte,
trat ungeſcheut hervor. Orakelkrämer und Zeichendeuter wurden
in der Stadt des Perikles mächtig, ausländiſche Gottesdienſte
drangen ein, Traumbücher gingen von Hand zu Hand, die
Aſtrologen des Morgenlandes beherrſchten die Gemüther und
dem Chaldäer Beroſos errichtete man Standbilder als einem
Wohlthäter des Volks. Was half den Athenern die geprieſene
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/189>, abgerufen am 28.11.2024.
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