Weisheit ihrer Sophisten, welche den Menschen zum Herrn der Welt und sein Urtheil zum Maße aller Dinge machen wollten? Sie entrissen ihm nur die letzten Haltpunkte und drängten das Gemüth in seiner Rathlosigkeit immer tiefer in die Bande der Unfreiheit.
Das einzige Mittel war, die Keime des gesunden Volks¬ bewußtseins, welches noch in den Athenern lebte, zu pflegen und zu läutern. Das that Sokrates. Er ehrte aufrichtig den frommen Sinn, der sich in der Befragung der Götter offen¬ barte; er erkannte in der Mantik eine durch nichts Anderes zu ersetzende Art der Frömmigkeit, welche er selbst übte und Anderen empfahl; es war ihm gewissermaßen eine gesteigerte Gebetsübung. Aber er suchte die volksthümliche Weise zu verinnerlichen; er wies in echt hellenischer Weise auf die ent¬ scheidende Stimme des eignen Gewissens hin, den Gott in des Menschen Brust, den untrüglichen Rathgeber, welcher den Auf¬ richtigen nicht im Stiche lasse. Auch Platon faßte als echter Hellene die Mantik als einen traulichen Verkehr zwischen Mensch und Gottheit auf; das schöne und zarte Verhältniß seiner Vaterstadt zu Delphi stellte er in verklärtem Bilde dar, und je ernster es die spätern Philosophen mit den sittlichen Aufgaben nahmen, um so mehr suchten sie auch der Mantik ihre Ehre zu erhalten.
Aus denselben Gegenden Kleinasiens, woher die Hellenen ihre Zeichen- und Wunderlehren empfangen haben, sind gleiche Anregungen auch weiter gegen Abend verbreitet, haben die italische Halbinsel durchdrungen und auf die Geschichte Roms einen tiefgreifenden Einfluß gewonnen.
Rom ist keine Stätte neuer Erfindungen gewesen. Die Entwickelung seiner Größe bestand darin, daß es das, was Italien an geistiger Cultur und Lebenskraft besaß, in immer weiteren Kreisen sich aneignete, und seit den ersten Anfängen ist auch griechische Sitte auf den Tiberhügeln ansässig gewesen. Was aber das Verhältniß der Menschen zu den Schicksal lenkenden Göttern betrifft, so hatten sich an den Gränzen von Latium besonders zweierlei Glaubensformen ausgebildet, welche
Die Unfreiheit der alten Welt.
Weisheit ihrer Sophiſten, welche den Menſchen zum Herrn der Welt und ſein Urtheil zum Maße aller Dinge machen wollten? Sie entriſſen ihm nur die letzten Haltpunkte und drängten das Gemüth in ſeiner Rathloſigkeit immer tiefer in die Bande der Unfreiheit.
Das einzige Mittel war, die Keime des geſunden Volks¬ bewußtſeins, welches noch in den Athenern lebte, zu pflegen und zu läutern. Das that Sokrates. Er ehrte aufrichtig den frommen Sinn, der ſich in der Befragung der Götter offen¬ barte; er erkannte in der Mantik eine durch nichts Anderes zu erſetzende Art der Frömmigkeit, welche er ſelbſt übte und Anderen empfahl; es war ihm gewiſſermaßen eine geſteigerte Gebetsübung. Aber er ſuchte die volksthümliche Weiſe zu verinnerlichen; er wies in echt helleniſcher Weiſe auf die ent¬ ſcheidende Stimme des eignen Gewiſſens hin, den Gott in des Menſchen Bruſt, den untrüglichen Rathgeber, welcher den Auf¬ richtigen nicht im Stiche laſſe. Auch Platon faßte als echter Hellene die Mantik als einen traulichen Verkehr zwiſchen Menſch und Gottheit auf; das ſchöne und zarte Verhältniß ſeiner Vaterſtadt zu Delphi ſtellte er in verklärtem Bilde dar, und je ernſter es die ſpätern Philoſophen mit den ſittlichen Aufgaben nahmen, um ſo mehr ſuchten ſie auch der Mantik ihre Ehre zu erhalten.
Aus denſelben Gegenden Kleinaſiens, woher die Hellenen ihre Zeichen- und Wunderlehren empfangen haben, ſind gleiche Anregungen auch weiter gegen Abend verbreitet, haben die italiſche Halbinſel durchdrungen und auf die Geſchichte Roms einen tiefgreifenden Einfluß gewonnen.
Rom iſt keine Stätte neuer Erfindungen geweſen. Die Entwickelung ſeiner Größe beſtand darin, daß es das, was Italien an geiſtiger Cultur und Lebenskraft beſaß, in immer weiteren Kreiſen ſich aneignete, und ſeit den erſten Anfängen iſt auch griechiſche Sitte auf den Tiberhügeln anſäſſig geweſen. Was aber das Verhältniß der Menſchen zu den Schickſal lenkenden Göttern betrifft, ſo hatten ſich an den Gränzen von Latium beſonders zweierlei Glaubensformen ausgebildet, welche
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Die Unfreiheit der alten Welt.
Weisheit ihrer Sophiſten, welche den Menſchen zum Herrn
der Welt und ſein Urtheil zum Maße aller Dinge machen
wollten? Sie entriſſen ihm nur die letzten Haltpunkte und
drängten das Gemüth in ſeiner Rathloſigkeit immer tiefer in
die Bande der Unfreiheit.
Das einzige Mittel war, die Keime des geſunden Volks¬
bewußtſeins, welches noch in den Athenern lebte, zu pflegen
und zu läutern. Das that Sokrates. Er ehrte aufrichtig den
frommen Sinn, der ſich in der Befragung der Götter offen¬
barte; er erkannte in der Mantik eine durch nichts Anderes
zu erſetzende Art der Frömmigkeit, welche er ſelbſt übte und
Anderen empfahl; es war ihm gewiſſermaßen eine geſteigerte
Gebetsübung. Aber er ſuchte die volksthümliche Weiſe zu
verinnerlichen; er wies in echt helleniſcher Weiſe auf die ent¬
ſcheidende Stimme des eignen Gewiſſens hin, den Gott in des
Menſchen Bruſt, den untrüglichen Rathgeber, welcher den Auf¬
richtigen nicht im Stiche laſſe. Auch Platon faßte als echter
Hellene die Mantik als einen traulichen Verkehr zwiſchen
Menſch und Gottheit auf; das ſchöne und zarte Verhältniß
ſeiner Vaterſtadt zu Delphi ſtellte er in verklärtem Bilde dar,
und je ernſter es die ſpätern Philoſophen mit den ſittlichen
Aufgaben nahmen, um ſo mehr ſuchten ſie auch der Mantik
ihre Ehre zu erhalten.
Aus denſelben Gegenden Kleinaſiens, woher die Hellenen
ihre Zeichen- und Wunderlehren empfangen haben, ſind gleiche
Anregungen auch weiter gegen Abend verbreitet, haben die
italiſche Halbinſel durchdrungen und auf die Geſchichte Roms
einen tiefgreifenden Einfluß gewonnen.
Rom iſt keine Stätte neuer Erfindungen geweſen. Die
Entwickelung ſeiner Größe beſtand darin, daß es das, was
Italien an geiſtiger Cultur und Lebenskraft beſaß, in immer
weiteren Kreiſen ſich aneignete, und ſeit den erſten Anfängen
iſt auch griechiſche Sitte auf den Tiberhügeln anſäſſig geweſen.
Was aber das Verhältniß der Menſchen zu den Schickſal
lenkenden Göttern betrifft, ſo hatten ſich an den Gränzen von
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/190>, abgerufen am 27.07.2024.
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