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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Freundschaft im Alterthume.
Liebe und Freundschaft zurückgeführt wird, verfährt Aristoteles
in der Weise, daß er die Freundschaft wieder von ihrer realen
Seite, als ein durch die Natur gegebenes, durch die Sitte
ausgebildetes Verhältniß des geselligen Lebens erörtert. Mit
dem prüfenden Auge eines Naturforschers untersucht er sie in
allen ihren Erscheinungsformen, er giebt gewissermaßen eine
Physiologie und Pathologie der Freundschaft. Es ist der
populärste Theil seiner Philosophie, und man fühlt der liebens¬
würdigen Wärme seiner Darstellung an, wie er hier recht auf
dem Boden volksthümlicher Anschauungen steht, welche er nur
zu ordnen und zu verbinden, tiefer und fruchtbarer zu machen
sucht. Als echter Grieche hält er an der Gleichheit als der
nothwendigen Freundschaftsbedingung fest, und darum müssen,
wenn nicht eine höchst seltene Ausgleichung des bestehenden
Standesunterschiedes eintritt, die irdischen Machthaber, welche
sonst auf der Höhe des Lebensglücks und im Ueberflusse der
Güter zu stehen scheinen, doch das Köstlichste aller menschlichen
Güter entbehren, dessen sich der Aermste und Niedrigste in
vollem Maße erfreuen kann.

Wenn die volksthümliche Idee der Freundschaft von der
Philosophie also verwerthet worden ist, so liegt schon darin
ausgesprochen, daß jene Idee über den engeren Kreis der sitt¬
lichen Lebensrichtungen hinausreichte, daß sie in das Gebiet
des Wissens eingriff und mit dem Erkenntnißtriebe in Ver¬
bindung trat. Die Alten wollten ja von solcher Unterscheidung
überhaupt nichts wissen. Wenigstens als zuerst mit voller
Energie eine das Menschenleben erfassende Philosophie zum
Durchbruche kam, da wollte man um keinen Preis das geistige
Leben in zwei Hälften aus einander gehen lassen; da sollte
keine Kluft zwischen Erkenntniß und Sittlichkeit, zwischen
Denken und Wollen sein. Ohne Wissenschaft keine Tugend,
keine Tugend ohne Wissen! Beides kann ja nur Eines zum
Gegenstande haben, das Gute, und auf dies Eine hin sollen
ungetheilt alle Muskeln der geistigen Kraft gespannt sein.
Nur in dieser Vereinigung aller Kräfte des Bewußtseins ist
die Vollendung des geistigen Lebens zu suchen. Wen fesselt

Die Freundſchaft im Alterthume.
Liebe und Freundſchaft zurückgeführt wird, verfährt Ariſtoteles
in der Weiſe, daß er die Freundſchaft wieder von ihrer realen
Seite, als ein durch die Natur gegebenes, durch die Sitte
ausgebildetes Verhältniß des geſelligen Lebens erörtert. Mit
dem prüfenden Auge eines Naturforſchers unterſucht er ſie in
allen ihren Erſcheinungsformen, er giebt gewiſſermaßen eine
Phyſiologie und Pathologie der Freundſchaft. Es iſt der
populärſte Theil ſeiner Philoſophie, und man fühlt der liebens¬
würdigen Wärme ſeiner Darſtellung an, wie er hier recht auf
dem Boden volksthümlicher Anſchauungen ſteht, welche er nur
zu ordnen und zu verbinden, tiefer und fruchtbarer zu machen
ſucht. Als echter Grieche hält er an der Gleichheit als der
nothwendigen Freundſchaftsbedingung feſt, und darum müſſen,
wenn nicht eine höchſt ſeltene Ausgleichung des beſtehenden
Standesunterſchiedes eintritt, die irdiſchen Machthaber, welche
ſonſt auf der Höhe des Lebensglücks und im Ueberfluſſe der
Güter zu ſtehen ſcheinen, doch das Köſtlichſte aller menſchlichen
Güter entbehren, deſſen ſich der Aermſte und Niedrigſte in
vollem Maße erfreuen kann.

Wenn die volksthümliche Idee der Freundſchaft von der
Philoſophie alſo verwerthet worden iſt, ſo liegt ſchon darin
ausgeſprochen, daß jene Idee über den engeren Kreis der ſitt¬
lichen Lebensrichtungen hinausreichte, daß ſie in das Gebiet
des Wiſſens eingriff und mit dem Erkenntnißtriebe in Ver¬
bindung trat. Die Alten wollten ja von ſolcher Unterſcheidung
überhaupt nichts wiſſen. Wenigſtens als zuerſt mit voller
Energie eine das Menſchenleben erfaſſende Philoſophie zum
Durchbruche kam, da wollte man um keinen Preis das geiſtige
Leben in zwei Hälften aus einander gehen laſſen; da ſollte
keine Kluft zwiſchen Erkenntniß und Sittlichkeit, zwiſchen
Denken und Wollen ſein. Ohne Wiſſenſchaft keine Tugend,
keine Tugend ohne Wiſſen! Beides kann ja nur Eines zum
Gegenſtande haben, das Gute, und auf dies Eine hin ſollen
ungetheilt alle Muskeln der geiſtigen Kraft geſpannt ſein.
Nur in dieſer Vereinigung aller Kräfte des Bewußtſeins iſt
die Vollendung des geiſtigen Lebens zu ſuchen. Wen feſſelt

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[192/0208] Die Freundſchaft im Alterthume. Liebe und Freundſchaft zurückgeführt wird, verfährt Ariſtoteles in der Weiſe, daß er die Freundſchaft wieder von ihrer realen Seite, als ein durch die Natur gegebenes, durch die Sitte ausgebildetes Verhältniß des geſelligen Lebens erörtert. Mit dem prüfenden Auge eines Naturforſchers unterſucht er ſie in allen ihren Erſcheinungsformen, er giebt gewiſſermaßen eine Phyſiologie und Pathologie der Freundſchaft. Es iſt der populärſte Theil ſeiner Philoſophie, und man fühlt der liebens¬ würdigen Wärme ſeiner Darſtellung an, wie er hier recht auf dem Boden volksthümlicher Anſchauungen ſteht, welche er nur zu ordnen und zu verbinden, tiefer und fruchtbarer zu machen ſucht. Als echter Grieche hält er an der Gleichheit als der nothwendigen Freundſchaftsbedingung feſt, und darum müſſen, wenn nicht eine höchſt ſeltene Ausgleichung des beſtehenden Standesunterſchiedes eintritt, die irdiſchen Machthaber, welche ſonſt auf der Höhe des Lebensglücks und im Ueberfluſſe der Güter zu ſtehen ſcheinen, doch das Köſtlichſte aller menſchlichen Güter entbehren, deſſen ſich der Aermſte und Niedrigſte in vollem Maße erfreuen kann. Wenn die volksthümliche Idee der Freundſchaft von der Philoſophie alſo verwerthet worden iſt, ſo liegt ſchon darin ausgeſprochen, daß jene Idee über den engeren Kreis der ſitt¬ lichen Lebensrichtungen hinausreichte, daß ſie in das Gebiet des Wiſſens eingriff und mit dem Erkenntnißtriebe in Ver¬ bindung trat. Die Alten wollten ja von ſolcher Unterſcheidung überhaupt nichts wiſſen. Wenigſtens als zuerſt mit voller Energie eine das Menſchenleben erfaſſende Philoſophie zum Durchbruche kam, da wollte man um keinen Preis das geiſtige Leben in zwei Hälften aus einander gehen laſſen; da ſollte keine Kluft zwiſchen Erkenntniß und Sittlichkeit, zwiſchen Denken und Wollen ſein. Ohne Wiſſenſchaft keine Tugend, keine Tugend ohne Wiſſen! Beides kann ja nur Eines zum Gegenſtande haben, das Gute, und auf dies Eine hin ſollen ungetheilt alle Muskeln der geiſtigen Kraft geſpannt ſein. Nur in dieſer Vereinigung aller Kräfte des Bewußtſeins iſt die Vollendung des geiſtigen Lebens zu ſuchen. Wen feſſelt

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/208>, abgerufen am 23.11.2024.