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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Freundschaft im Alterthume.
Colonien wurden die Keime pythagoreischer Politik wieder
nach dem Mutterlande gebracht und fanden in Theben ein
neues Gedeihen. Epaminondas und Pelopidas sind die Muster¬
bilder einer Freundschaft, welche im Stande war, einen kleinen
verkommenen Staat groß und berühmt zu machen, und an
die heilige Schaar der thebanischen Freunde knüpfen sich die
letzten Erinnerungen griechischer Freiheitskämpfe.

Das waren einzelne Verwirklichungen des hellenischen
Ideals, aber die Ueberzeugung ging durch alle Staaten und
Stämme hindurch, daß der Bürger Freundschaft die erste Be¬
dingung des Gemeinwohls sei. Aller Orten waren es die
Uebungsplätze der Jugend, welche zugleich die Stätten der
Freundschaft, der Verfassungstreue und Freiheitsliebe waren,
und deshalb hatten die Tyrannen, wo sie immer in Griechen¬
land auftraten, nichts Eiligeres zu thun, als die städtische Ring¬
schulen zu schließen. Ferner dienten die öffentlichen Feste, die
gemeinsamen Speisungen der Bezirksgenossen dazu, den Geist
brüderlicher Genossenschaft unter den Bürgern zu stärken.
Die Gesetzgeber, sagt Aristoteles, bemühen sich mehr um die
Freundschaft, als um die Gerechtigkeit; denn wenn die Bürger
Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit.

Also war die Freundschaft das oberste Staatsgesetz; sie
war die höhere sittliche Ordnung, in welche die äußere Pflicht¬
treue und Gesetzlichkeit sich verklärte, und es waltete der
staatenhütende Zeus als Freundschaftsgott, als Zeus Philios,
segnend über den Staaten. Ja es war den Griechen die
Freundschaft ein allgemeines Weltgesetz, und sie konnten sich
den Staat im Olymp so wenig wie den irdischen Staat ohne
Freundschaft denken. Wo sie nicht ist, da ist Dunkel und
Chaos; nur durch sie besteht im Himmel und auf Erden Maß
und heitere Ordnung und Gesetz. In der Freundschaft bewährt
sich die Tugend des Einzelnen, auf ihr beruht der Bestand
der Gesellschaft. Darum ist auch bei Aristoteles die Philia
der Abschluß der Ethik und das bindende Glied, durch welches
mit der Ethik die Lehre vom Staate zusammenhängt. Es

Die Freundſchaft im Alterthume.
Colonien wurden die Keime pythagoreiſcher Politik wieder
nach dem Mutterlande gebracht und fanden in Theben ein
neues Gedeihen. Epaminondas und Pelopidas ſind die Muſter¬
bilder einer Freundſchaft, welche im Stande war, einen kleinen
verkommenen Staat groß und berühmt zu machen, und an
die heilige Schaar der thebaniſchen Freunde knüpfen ſich die
letzten Erinnerungen griechiſcher Freiheitskämpfe.

Das waren einzelne Verwirklichungen des helleniſchen
Ideals, aber die Ueberzeugung ging durch alle Staaten und
Stämme hindurch, daß der Bürger Freundſchaft die erſte Be¬
dingung des Gemeinwohls ſei. Aller Orten waren es die
Uebungsplätze der Jugend, welche zugleich die Stätten der
Freundſchaft, der Verfaſſungstreue und Freiheitsliebe waren,
und deshalb hatten die Tyrannen, wo ſie immer in Griechen¬
land auftraten, nichts Eiligeres zu thun, als die ſtädtiſche Ring¬
ſchulen zu ſchließen. Ferner dienten die öffentlichen Feſte, die
gemeinſamen Speiſungen der Bezirksgenoſſen dazu, den Geiſt
brüderlicher Genoſſenſchaft unter den Bürgern zu ſtärken.
Die Geſetzgeber, ſagt Ariſtoteles, bemühen ſich mehr um die
Freundſchaft, als um die Gerechtigkeit; denn wenn die Bürger
Freunde ſind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit.

Alſo war die Freundſchaft das oberſte Staatsgeſetz; ſie
war die höhere ſittliche Ordnung, in welche die äußere Pflicht¬
treue und Geſetzlichkeit ſich verklärte, und es waltete der
ſtaatenhütende Zeus als Freundſchaftsgott, als Zeus Philios,
ſegnend über den Staaten. Ja es war den Griechen die
Freundſchaft ein allgemeines Weltgeſetz, und ſie konnten ſich
den Staat im Olymp ſo wenig wie den irdiſchen Staat ohne
Freundſchaft denken. Wo ſie nicht iſt, da iſt Dunkel und
Chaos; nur durch ſie beſteht im Himmel und auf Erden Maß
und heitere Ordnung und Geſetz. In der Freundſchaft bewährt
ſich die Tugend des Einzelnen, auf ihr beruht der Beſtand
der Geſellſchaft. Darum iſt auch bei Ariſtoteles die Philia
der Abſchluß der Ethik und das bindende Glied, durch welches
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[197/0213] Die Freundſchaft im Alterthume. Colonien wurden die Keime pythagoreiſcher Politik wieder nach dem Mutterlande gebracht und fanden in Theben ein neues Gedeihen. Epaminondas und Pelopidas ſind die Muſter¬ bilder einer Freundſchaft, welche im Stande war, einen kleinen verkommenen Staat groß und berühmt zu machen, und an die heilige Schaar der thebaniſchen Freunde knüpfen ſich die letzten Erinnerungen griechiſcher Freiheitskämpfe. Das waren einzelne Verwirklichungen des helleniſchen Ideals, aber die Ueberzeugung ging durch alle Staaten und Stämme hindurch, daß der Bürger Freundſchaft die erſte Be¬ dingung des Gemeinwohls ſei. Aller Orten waren es die Uebungsplätze der Jugend, welche zugleich die Stätten der Freundſchaft, der Verfaſſungstreue und Freiheitsliebe waren, und deshalb hatten die Tyrannen, wo ſie immer in Griechen¬ land auftraten, nichts Eiligeres zu thun, als die ſtädtiſche Ring¬ ſchulen zu ſchließen. Ferner dienten die öffentlichen Feſte, die gemeinſamen Speiſungen der Bezirksgenoſſen dazu, den Geiſt brüderlicher Genoſſenſchaft unter den Bürgern zu ſtärken. Die Geſetzgeber, ſagt Ariſtoteles, bemühen ſich mehr um die Freundſchaft, als um die Gerechtigkeit; denn wenn die Bürger Freunde ſind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit. Alſo war die Freundſchaft das oberſte Staatsgeſetz; ſie war die höhere ſittliche Ordnung, in welche die äußere Pflicht¬ treue und Geſetzlichkeit ſich verklärte, und es waltete der ſtaatenhütende Zeus als Freundſchaftsgott, als Zeus Philios, ſegnend über den Staaten. Ja es war den Griechen die Freundſchaft ein allgemeines Weltgeſetz, und ſie konnten ſich den Staat im Olymp ſo wenig wie den irdiſchen Staat ohne Freundſchaft denken. Wo ſie nicht iſt, da iſt Dunkel und Chaos; nur durch ſie beſteht im Himmel und auf Erden Maß und heitere Ordnung und Geſetz. In der Freundſchaft bewährt ſich die Tugend des Einzelnen, auf ihr beruht der Beſtand der Geſellſchaft. Darum iſt auch bei Ariſtoteles die Philia der Abſchluß der Ethik und das bindende Glied, durch welches mit der Ethik die Lehre vom Staate zuſammenhängt. Es

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/213>, abgerufen am 23.11.2024.